Totgekuesste leben laenger
meinem Pappbecher. Als ich einmal nach einer besonders frustrierenden Nacht versucht hatte, Barnabas über seine Technik auszufragen, war er keine wahnsinnig große Hilfe gewesen. Er hatte nur irgendwas von »flüchtigen Gedanken« gemurmelt, und dass ich gefälligst mehr üben sollte. Flüchtige Gedanken. Ja, klar, und wenn ich geflügelte Worte lernte, hob ich ab.
»Du probierst es doch erst seit einer Stunde. Sei nicht so streng mit dir. Ein bisschen Zeit haben wir schließlich noch«, beruhigte mich Josh, kniff aber besorgt die Augen zusammen.
Zeit, dachte ich, zerknüllte die Hülle meines Strohhalms und ließ sie fallen. Vielleicht hätte ich lieber üben sollen, wie man die Zeit verlangsamte, aber das klang noch schwieriger.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Josh. Doch ich merkte, dass er immer nervöser wurde. Eine Begegnung mit dem Tod schüttelte man nicht so einfach ab. Und wieder durchfuhr mich die Erinnerung an Kairos: wie er mit gezogenem Schwert im Mondlicht stand, während ich hilflos in einem Cabrio mit Totalschaden saß.
Meine Hand wanderte wieder zu meinem Amulett. Ich hielt den Stein fest, wie um mich zu vergewissern, dass ich hier und irgendwie lebendig war, obwohl ich das Amulett eines schwarzen Zeitwächters trug. Im Leichenschauhaus aufzuwachen und mich selbst auf dem Tisch liegen zu sehen, war die furchtbarste Erfahrung meines Lebens gewesen. Noch schlimmer war allerdings zu wissen, dass ich selbst daran schuld war. Schließlich hätte ich nicht zu ihm ins Auto steigen müssen, megasüß hin oder her. Mittlerweile fand ich Kairos auch gar nicht mehr so süß. Kaum auszudenken, dass ich ihn tatsächlich geküsst hatte. Ich umklammerte das Amulett fester. Jetzt trug ich es schon seit Monaten, sein Gewicht war vertraut und beruhigend. Ohne das Amulett wäre ich nicht nur unsichtbar, sondern auch körperlos. Ich könnte durch Wände und geschlossene Türen gehen und wäre eine leichte Beute für die Schwarzflügel. Praktisch ein Geist. Und wenn das die Lösung war? Nicht flüchtige Gedanken zu denken, sondern den Einfluss des Steins irgendwie zu blockieren?
Ich starrte hinunter auf den Tisch und durchforstete Gedächtnis nach der Erinnerung an den schrecklichen Moment im Leichenschauhaus. Damals konnte ich meinen Herzschlag spüren und wie sich die Luft durch meine Lungen bewegte, als ich reflexartig atmete. Doch mein Körper steckte in dem schwarzen Leichensack, unfähig, den kalten Granit oder den weichen Kunststoff um ihn zu fühlen. Ich war von meinem Körper getrennt. Die Verbindung war unterbrochen. Sie war einfach nicht mehr da. Und vor lauter Angst war ich losgerannt.
Während des Rennens wurde die Luft in mir ganz dünn, als würde ich genauso körperlos wie sie - beinahe, als würde ich mich ihr anpassen. Meine Knie waren ganz weich geworden. Reale Gegenstände zu berühren tat weh, als würden sie über meine Knochen schaben. Erst als Barnabas gekommen war, fühlte ich mich wieder normal. Erst da war ich so weit, zu erkennen und zu verstehen, was ich verloren hatte. Ohne meinen Körper hatte mich das Universum einfach nicht erkannt. Bis zu dem Augenblick, als Barnabas und sein Amulett mir so nah waren, dass es sich an etwas orientieren und mir wieder einen Platz in seinem Gefüge zuweisen konnte. War es möglich, dass ich durch die Trennung von meinem Körper etwas verloren hatte, was die Zeit und das Universum brauchten, um mich weiter mitzunehmen? Vielleicht stellten die Amulette so was wie Fixpunkte dar, an denen sich Zeit und Raum festhaken konnten, und von wo aus sie Geist und Seele mit der Gegenwart synchronisierten. Wenn es mir aber nun gelang, diese Verbindungen zu durchbrechen …
Angespannt rutschte ich auf der harten Sitzbank hin und her; ich war mir sicher, dass ich auf der richtigen Spur war. Die Augen immer noch geschlossen, verlor ich mich tief in meinen Gedanken. Ich versuchte, mich als geschlossene Einheit zu sehen, die durch die Fäden der Vergangenheit an die Gegenwart geknüpft war. Ich hörte die Geräusche um mich herum: Josh, der seine Cola schlürfte, das klingelnde Telefon hinter der Theke und endlich, nach Monaten, in denen ich mich so sehr um Konzentration bemüht hatte, klappte mal was.
Aufregung durchflutete mich, als ich plötzlich die Linie vor mir sah, die mein Leben gezogen hatte. Gespannt beobachtete ich, wie aus einer bloßen Möglichkeit eine Linie wuchs, staunte darüber, wie sich mein Leben mit dem anderer verwob und schließlich bei einem
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