totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
kämmte ihr sorgfältig die dünnen grauen Haare. Ich schaute ihm dabei zu, und seltsamerweise war mir grad’ überhaupt nicht übel geworden, obwohl das Kinn von Frau Becker weit nach unten hing. Aber jetzt meinte ich eindeutig den Hauch des Todes wahrzunehmen. Mir standen die Nackenhaare zu Berge, und ich versuchte mich in geruchsnervenschonender Mund-Flachatmung. Mir zitterten die Hände. Tapfer stemmte ich die Füße in den Boden, um nicht als lebendes Abbild von Edward Munchs Der Schrei die Treppe hinaufzuschießen.
Matti schob das Kinn sanft nach oben und band es mit einer Mullbinde fest. Das sollte für eine einfache, anonyme Bestattung reichen. Warum machte er sich überhaupt so viel Mühe? Es würde niemand kommen und um Frau Becker trauern, geschweige denn, dass jemand wirklich von ihr würde Abschied nehmen wollen. Sie war wohl die letzte ihrer Art, die letzte in ihrer Familie, die letzte ihres Freundeskreises. Und jetzt war auch sie tot. Alles, was Frau Becker jemals ausgemacht hatte, gewusst hatte, gedacht hatte und erlebt hatte, war jetzt für immer futsch. Ich fuhr heftig zusammen, als an der großen Tür der Anlieferungsrampe geklopft wurde.
Matti nickte mir zu. Ich öffnete.
Eine stämmige Frau von ca. 60 Jahren stand vor mir. Mir fielen sofort ihre zarte Haut und ihre leicht rötlichen, stramm zurückgekämmten Haare auf. Insgesamt machte sie einen … wie soll ich sagen … mit Kernseife geschrubbten Eindruck. Als nächstes fielen mir ihre Waden auf, die wie zwei Keulenschlegel, eingepackt in braune Stützstrümpfe, unter ihrem dunkelblauen Mantel hervorkamen. Ihre großen Füße steckten in derben, praktischen Schuhen Marke »Louis Trenker goes to town«. Auf dem Boden hatte sie eine große karierte Einkaufstasche abgestellt. Diese Erscheinung, alles in allem irgendwas zwischen Walküre und BDM-Mädel, sah mich mit tränenverschleierten Augen an.
»Kann ich sie noch mal sehen? Sie hat doch sonst niemanden.«
Die Frau nestelte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich vernehmlich die Nase. »Entschuldigung. Ich bin Schwester Beate.«
Sie nahm meine gummihandschuhbewehrte Hand und drückte sie kräftig. »Sie sind bestimmt Frau Abendroth.«
Bäh! Damit hatte ich doch die tote Frau Becker angefasst! Wenn sie doch nur aufhören wollte, sich zu entschuldigen!
»Ja. Bin ich. Kommen Sie herein. Herr Matti ist gerade fertig geworden.«
Endlich ließ sie meine Hand los, und ich flitschte hastig die Handschuhe in den Müll.
Sie trat an den Sarg heran und legte einen kleinen Blumenstrauß, den sie aus ihrer karierten Einkaufstasche geholt hatte, in die Hände von Frau Becker. Dazu legte sie noch einen Rosenkranz und einen blauen Kapothut in den Sarg. Mit leisem Schniefen sagte sie: »Den hat sie immer getragen, als wir noch zusammen zum Einkaufen gehen konnten. Frau Becker war immer so lustig. Und so wach.« Sie betupfte ihre Augen wieder und wieder mit einem Taschentuch.
»Danke, Herr Matti. Sie sieht sehr ordentlich aus.«
»Man muss ordentlich von der Welt gehen«, erwiderte er.
Ein ganzer Satz von Matti – mit sieben Worten!
Schwester Beate strich der Toten noch mal liebevoll übers Haar, schüttelte erst Matti und dann mir die Hand und ging, immer noch schniefend, eilig hinaus. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter: Sie hatte die Tote und Mattis Handschuhe berührt und danach meine nackte Hand! Ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Waschen und Duschen befiel mich. Ich wusste nicht, wohin mit meinen besudelten Händen. Für einen Augenblick glaubte ich, dass Frau Becker gelächelt hatte, aber das war sicher nur Einbildung. Eine gelbe Fluse hing noch an ihrer linken Augenbraue. Spontan schoss meine rechte, nackte Hand vor und schnippte den Flusen vorsichtig weg. Gott, war ich cool. Als ich wieder aufschaute, sah ich Matti, der sich gerade wegdrehte. Lächelte der etwa auch? War wohl auch nur Einbildung. Matti lächelte nie. Wir setzten den Deckel auf den Sarg und schoben Frau Becker in den gekühlten Aufbahrungsraum, wo sie ungestört sein würde, bis Sommer sie am nächsten Morgen zur Bestattung in einem anonymen Gräberfeld zum Hauptfriedhof fahren würde.
»Ist Ihnen wieder wohler, Herr Matti?«
Er nickte und sagte: »Sie gehen jetzt besser.«
Dabei öffnete er die Tür vom großen Kühlraum.
»Herzschrittmacher«, sagte er. Ich verstand immer noch nicht, bis ich sah, dass Matti ein Skalpell vom Instrumententisch nahm. Man sollte sich immer verabschieden, wenn es am schönsten
Weitere Kostenlose Bücher