totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
niedrigen Rollwägelchen parat gestellt hatte.
»Soll ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?«
Er nickte. Ich schoss nach oben, war nach einer Minute wieder unten und hielt Matti den dampfenden Becher hin. Seine Hände zitterten immer noch, aber wenigstens war wieder etwas Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt. Sofern man das bei diesem Mann sagen konnte, der, wenn es ihm gut ging, gerade mal die Farbe persilgewaschener weißer Bettlaken hatte. Ich setzte mich neben ihn auf den Sarg und wartete ab. Aus was auch immer für Gründen konnte ich mich nicht entschließen, ihn alleine zu lassen, solange ich nicht sicher sein konnte, dass er wieder hundertprozentig auf dem Damm war. Dabei war ich sehr damit beschäftigt, meinen Blick nicht zu intensiv im Arbeitsraum herumschweifen zu lassen. Matti trank seinen Kaffee und seufzte.
»Besser?«
»Ja, besser«, flüsterte er und schaute mich mit seinen stahlblauen, traurigen Augen an.
Bevor ich überhaupt nachdenken konnte, hörte ich mich selber sagen: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Hallo? Wer hat das jetzt aus meinem Mund fallen lassen? War ich denn komplett meschugge geworden? Bis vor zehn Minuten hatten mich noch keine zehn Pferde hier runter gekriegt, und jetzt saß ich neben dem Zwilling von Riff Raff auf einem Sarg und bot ihm meine Hilfe beim Einsargen an?
Matti tat mir nicht den Gefallen, bei meinem Angebot freundlich abzuwinken, sondern nickte bedächtig. Leider. Vielleicht kannten die Finnen den Gebrauch von rhetorischen Fragen und deren korrekte Beantwortung nicht? Wurde ich jetzt das Opfer eines kapitalen kulturellen Missverständnisses? Und ob! Ehe ich mich versah, hatte ich einen grünen Einwegkittel und Gummihandschuhe an, hielt die dünnen, kalten Beine der toten Frau Becker in der Hand und war um eine Erfahrung reicher: Tote fühlen sich an wie kalter Speck aus dem Kühlschrank. Jedenfalls diese toten Beine. Nicht drüber nachdenken, ermahnte ich mich. Bloß nicht an kalten Speck denken, sonst gibt es ein Unglück, Margret.
Ich konzentrierte mich mit aller Macht darauf, was Herr Matti gerade machte. Er hatte das billigste Sargmodell, das für gewöhnlich für die schlichten Erdbestattungen genommen wurde, bereits mit Decke und Kissen ausgelegt. Das Sargwägelchen war mit einer Hydraulik ausgestattet. Matti hatte den Sarg auf Höhe des Arbeitstisches gepumpt und den Deckel an die Wand gelehnt. Auf Mattis Kommando hoben wir die federleichte Frau Becker vorsichtig in den Sarg.
Einmal, an meinem dritten Arbeitstag, war ich so unvorsichtig gewesen und hatte Sommer salopp gefragt, warum man denn so einen teuren Sarg bezahlen musste, wenn man sowieso eingeäschert oder in die Erde gesteckt wird. Ein Pappkarton täte es doch auch. Danach hatte ich mir eine lange, lange Rede über Holz und Wandstärken, Stabilität und den gesamten Vorgang im Verbrennungsofen anhören müssen. Es ist ganz einfach so, dass, wenn der Sarg zu früh zusammenfällt, man eben keine rückstandsfreie Einäscherung erreicht. Und deswegen muss der Sarg aus Holz sein und nicht aus Pappe. Verschiedene Testreihen in Krematorien hatten das bewiesen. Hoffentlich nicht mit Freiwilligen, war mein erster Gedanke dazu gewesen.
Man sei ja schließlich nicht in Indien, hatte Sommer noch überheblich hinzugefügt, wo die Reste in den nächstbesten heiligen Fluss gekehrt würden und Mikroben, Fische und andere Recyclingspezialisten sich der Sache natürlicherweise annahmen. Ich konnte mir auch gar nicht vorstellen, dass unsere gute alte Ruhr demnächst zu einem heiligen Fluss erklärt werden könnte. Matti hatte sich den ganzen Sermon schweigend angehört und dabei seinen Kaffee getrunken. Ich war bei der Belehrung ein bisschen blass geworden und heuchelte, unaufschiebbare Telefonate vornehmen zu müssen, um nicht auch noch in den Genuss des mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit folgenden Vortrages über die Verwesungsvorgänge en détail bei einer Erdbestattung zu kommen. Sommers Vortrag über den Unterschied zwischen Nähen und Tackern hatte mich schon eiskalt erwischt; diesen hier beendete ich zu meinem eigenen Seelenheil vorzeitig, aber nicht rechtzeitig. Ich hatte schon wieder viel zu viel Information abgekriegt. Herrn Sommer war die Enttäuschung über meine plötzliche Flucht deutlich anzusehen gewesen. Und zu hören auch.
Nachdem wir Frau Becker in den Sarg gelegt hatten, faltete Matti ihr liebevoll die Hände und strich ihre Kleidung glatt. Dann nahm er eine Haarbürste und
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