totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
vergessen, wie man einem Mann an die Wäsche geht. Als die Leiche komplett entkleidet war, setzte ich mich mit genügend Sicherheitsabstand zum Arbeitstisch auf eine unserer Materialkisten. Herr Matti lud mich ein, ihm einfach zuzuschauen, wie er die Leiche wusch und an den speziellen Stellen desinfizierte und »auslaufsicher« machte. Ich war schon wieder kurz vor Der Schrei . Als ich diese Demonstration unter Aufbietung größter Willenskraft überstanden hatte, kündigte Herr Matti an, dass er der Leiche jetzt den Mund verschließen müsse – ob ich helfen wolle? Ich schüttelte vehement den Kopf.
»Ich glaube, mir wird schlecht, Herr Matti.«
»Gehen Sie ruhig, wenn es Ihnen zu viel wird.«
Das war das Zauberwort, und vor allem, wie er es sagte – furchtbar verständnisvoll. Ich hasse diesen, wie ich ihn nenne, Sozialarbeiterton. Nein, ich würde nicht gehen. Ich würde jetzt definitiv nicht gehen, sondern Herrn Matti Nadel und Faden anreichen!
»Nein, nein, es geht schon wieder«, behauptete ich und trat an den Arbeitstisch. »Es ist nur der Geruch, verstehen Sie?«
Er nahm eine große Sprayflasche von einem der Regale und sprühte eine Wolke völlig geruchlosen Gases über die Leiche. Der Geruch war weg. Na, das hätte er doch bitte eher tun können.
»Enzymspray.«
»Danke. Besser als Duftbäumchen.«
Ohne auf meinen halbherzigen Scherz einzugehen, widmete er sich wieder dem Toten, jetzt mit Nadel und Faden. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich eine Superrolle bei Emergency Room hätte und wir gerade die Szene drehten, in der Dr. Green einem Koma-Patienten das Leben rettete.
Herr Matti reinigte Mundhöhle und Nase des Toten sorgfältig mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tupfer, den er mit einer langen Pinzette festhielt. Er stopfte Watte in Nasen- und Rachenraum. Ich wusste gar nicht, wie viel Watte in eine Nase passen kann. Er arbeitete dabei ruhig und entspannt vor sich hin. Mich schüttelte es, und ich hatte große Mühe, meinen Magen davon abzuhalten, meinen Körper spontan zu verlassen. Ach, wäre ich doch bloß rechtzeitig gegangen! Dann kam das Allerschlimmste: Er nahm eine gekrümmte Nadel und vernähte fachgerecht und später von außen völlig unsichtbar Ober- und Unterkiefer miteinander. Das Geräusch, oh weh, dieses Geräusch. Ich hielt mir die Ohren zu und verfolgte trotzdem fasziniert aus den Augenwinkeln jede Handbewegung, die Matti machte. Warum gab es nicht auch ein Spray gegen diese Geräusche? Warum rief denn keiner: »Cut und danke, das war’s für heute. Die Szene ist gestorben«?
Nach drei Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, legte Matti die Nadel beiseite und verknotete den Faden ordentlich, schnitt ihn ab und stopfte die Enden des Fadens hinter die Zähne. Dann schloss er sorgfältig die Lippen des Toten und schob sie zu einem freundlichen Gesichtsausdruck zurecht. Zur Sicherheit gab er etwas Kleber auf Ober- und Unterlippe, damit sie sich nicht mehr öffnen konnten.
»Lipofix«, informierte er mich. Das sollte man so manchem Zeitgenossen regelmäßig ins Gesicht drücken, dachte ich, vor allem bei Aldi an der Kasse. »Oh, entschuldigen Sie, aber ich hätte da was gegen Ihre verbale Inkontinenz.« Und zack, Lipofix statt Labello, und endlich ist Ruhe im Karton.
Als wir nach einer Stunde die Leiche in den vorbereiteten Sarg gebettet hatten, stand mir der Schweiß nicht nur auf der Stirn, sondern ganze Sturzbäche fluteten meine Unterwäsche. Ich war aber auch ein bisschen stolz auf mich. Ich hatte nicht schlapp gemacht. Ganz im Gegenteil, als wir fertig waren, sagte Herr Matti sogar: »Sie können das lernen, Frau Margret.«
»Herr Matti, ich weiß gar nicht, ob ich das lernen will. Ich fürchte mich vor Leichen.«
»Ich fürchte mich vor Lebenden.«
Tja, jedem das Seine. Morgen würden die Angehörigen hier erscheinen und eine hygienisch einwandfreie Verabschiedung erleben. Emotional einwandfrei fand ich, selbst nach zwei Monaten bei Pietät Sommer, diese Art von Veranstaltungen immer noch nicht.
Während wir mit dem Herzinfarkt beschäftigt waren, fuhr Sommer mit zwei Feuerbestattungen im großen Lieferwagen nach Venlo. Im Krematorium unserer Stadt waren keine Termine zu kriegen, wie er mir erklärte. Bestattungstourismus in die Niederlande könnte man das nennen. Sommer würde erst heute Nacht mit zwei Urnen zurückkommen, die er morgen früh anonym auf dem Zentralfriedhof beisetzen ließ. Drei Sätze zum Abschied von jemandem, der nie was mit
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