totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
auch geholfen, die Hausarbeiten zu schreiben und Sachen nachzulesen. Ich kann alles im Kopf behalten.«
»Und Straßen? Wie finden Sie die Adressen, und alles …?«
»Alles hier«, er tippte sich an die Stirn.
»Sie sind unglaublich, Matti. Haben Sie denn jemals gelesen, was für einen Vertrag Sie mit Bartholomae gemacht haben?«
»Ich nicht, Frau Kostnitz hat mir vorgelesen. Sie war immer so nett. Der Vertrag ist in Ordnung.«
»Oh, verstehe.«
Ich schob mir noch einen Keks in den Mund.
»Herr Matti, was machen wir denn jetzt bloß?«
»Ich habe noch etwas für Sie.«
Er ging zum Sideboard und holte aus einer Schublade einen Stapel Papier.
»Was ist das?«
»Das habe ich bei Bartholomae aus dem Müll geholt. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe es mitgenommen. Vielleicht ist es ja wichtig!«
Ich sah einen Wust von Papier. Wie ich mit einem Blick feststellen konnte, handelte es sich hauptsächlich um unwichtigen Kram. Einladungen zu Messen, Angebote für medizinisches Gerät, Fotokopien usw. Ich wollte Matti nicht enttäuschen, also sagte ich: »Herr Matti, ich bin heute noch verabredet. Ich nehme das alles mit nach Hause und schaue es in Ruhe durch. Jetzt muss ich los.«
»Ja, es ist spät. Soll ich Sie in die Stadt fahren?«
»Nicht nötig. Danke, dass Sie mir das alles erzählt haben. Ich werde niemandem etwas sagen. Versprochen.«
»Ich weiß.«
Woher, verdammt noch mal, willst du das wissen, alter Finne? Warum glaubte dieser Mensch, in mir lesen zu können wie in einem offenen Buch?
Ich fühlte mich ertappt und packte umständlich den Stapel Papier in meine Tasche, damit ich ein bisschen Zeit gewann, mich wieder einzukriegen. Wer hatte heute Abend eigentlich wen aus der Reserve gelockt?
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich schon wieder unverschämt spät dran war, also hastete ich nach einer kurzen Verabschiedung schliddernd durch die vereisten Straßen zur Bahn. Ich war wild entschlossen, bei Wilma mehr als zwei Eierliköre zu trinken.
19
Während ich in der U-Bahn saß und Richtung Wilmas Salon fuhr, hätte ich gleich wieder losheulen können. Hatte denn niemand, der mir hier über den Weg lief, ein gutes, sorgenfreies, frohes, heiteres, vielleicht sogar brillantes Leben? Das war doch nicht fair. Die Matrix schien immer dieselbe zu sein: Man macht im Leben einen einzigen Fehler, und schon geht alles zu Bruch. Herr Matti hatte im falschen Moment gesagt, die Straße sei frei. Tausende von Menschen hatten sich am 11. September in New York zur falschen Zeit am falschen Ort verabredet. Ich hatte dem falschesten aller zur Verfügung stehenden Kerle meine Kehle hingehalten. Wahrscheinlich hatten Sommer und Bartholomae beim Börsen-Rodeo auf die Deutsche Telekom gesetzt anstatt auf Puma-Aktien. Erika Kostnitz hatte sich den falschen Mann und den falschen Pflegedienst ausgesucht, und Kostnitz hatte sich dummerweise dem Alkohol verschrieben, und alle Toten ohne Angehörige hatten sich der falschen Sterbeversicherung anvertraut und vor allem der falschen Sterbebegleitung, nämlich Schwester Beate. Eine falsche Entscheidung und Bäng! – das war dein Leben. Du hättest die andere Ausfahrt nehmen sollen. Aber zu spät, auf der Autobahn darf nicht gewendet werden!
Beinahe hätte ich durch mein halbphilosophisches Brüten über die Gesetzmäßigkeiten des Fehlermachens die Haltestelle verpasst. Ich sprang in letzter Sekunde aus der Bahn.
Bei Wilma stand im Salon schon eine Flasche Eierlikör parat. Die letzte Kundin wurde soeben höflich hinauskomplimentiert. Wilma ließ mich hinein und schloss hinter mir schnell die Tür ab.
»Ich habe dem Lehrmädchen früher freigegeben.«
»Das heißt also, dass du jetzt noch fegen musst. Ich helf’ dir.«
»Siehst du hier etwa Dreck?«
Sie schnappte sich die Eierlikörflasche, ihre Handtasche, machte das Licht aus, und so stiefelten wir die Hintertreppe zu ihrer Wohnung hoch.
»Sag bloß, du leistest dir jetzt eine Putzfrau für den Salon?«
»Du sagst es. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst. Solltest du dir auch mal gönnen.«
Wie es aussah, traf Wilma die eine oder andere richtige Entscheidung.
»Danke für den Hinweis, aber bei meinem derzeitigen finanziellen Desaster könnte ich mir allenfalls einen Handfeger zu Weihnachten schenken. Damit wäre das Budget erschöpft.«
Wir kickten gleichzeitig unsere Schuhe von den Füßen und fläzten uns aufs Prachtsofa. Wie ich mich so bei Wilma umschaute, wurde mir klar, dass es doch
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