totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
Fluss.
»Klar. Er ist ein Guter.«
Kajo wischte sich den Regen und die Tränen aus dem Gesicht und spuckte auch in den Fluss.
»Warum spuckt man eigentlich immer von Brücken?«
»Infantiles Restsortiment im Verhaltensrepertoire«, sagte ich.
»Hm.«
»Kajo, können Sie dem alten Herrn die Idee nicht ausreden?«
»Zu spät. Im Augenblick macht Schwester Beate das Abendessen für ihn.«
»Ihr Vater lässt aber auch nichts aus.«
»Ach, ich finde die Frau okay.«
»So! Sie finden sie also okay. Kajo, denken Sie doch mal nach.«
»Die ist so harmlos wie ein Toastbrot. Ehrlich. Meine Mutter kannte die noch von der Schule. Beate hat bei ihr Geige gelernt, als Mama noch unterrichtet hat. Die hat zu meinem Vater gesagt, dass sie sich schon von Leichen verfolgt fühlt. Mir hat sie erzählt, dass meine Mutter über ihre Befürchtungen nur milde gelächelt und versprochen hat, vorerst nicht zu sterben.«
»Was für Befürchtungen denn?«
»Na ja, dass die Leute so massenhaft unter ihren Händen wegsterben. Fragen Sie meinen Vater.«
»Wie traurig für Ihre Mutter. Hat wohl nicht geklappt mit dem Nicht-Sterben.«
»Nee, hat wohl nicht geklappt.«
Jetzt wurden die Hagelkörner langsam gefährlich. Ich hörte, wie sie mit sattem Ploing auf der Motorhaube meines Wagens aufschlugen.
»Müssen Sie jetzt den ganzen Berg wieder hoch?«
»Ja.«
»Schmeißen wir das Fahrrad in den Kofferraum. Ich fahre Sie rauf.«
»Super. Danke.«
Ich klappte die Rückbank um. Mit viel Gezerre und Geziehe verstauten wir das Fahrrad im Kofferraum.
Schweigend fuhren wir die Straße wieder hoch, zurück in die Zivilisation. Wir waren beide auf der Brücke sehr nass geworden. Ich hatte die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht. Die Scheiben beschlugen von innen. Regen und Hagel fielen so dicht, dass man die Hand kaum noch vor Augen sehen konnte. Die Scheinwerfer bohrten sich durch die Gischt, aber mein tapferer Opel schaffte es tatsächlich die Kemnader Straße hoch. Das einzig wirkliche Problem war, dass immer mehr Wasser in den Fußraum lief. Ich hätte das Dichtungsgummi aus der Tür vielleicht doch lieber nicht abreißen sollen.
»Warum sind Sie denn bei diesem Scheißwetter überhaupt den Berg runtergefahren?«
»Ich brauchte frische Luft. Das war heute erst die dritte Beerdigung meines Lebens, wissen Sie, ich bin da noch nicht so geübt. Und außerdem wollte ich wissen, was Sie da unten machen.«
»Die Neugier ist des Raben Tod.«
»Natürlich.«
»Sie müssen sich nicht über mich lustig machen, Kajo.«
»Mach ich ja nicht. Das hat meine Mama immer gesagt. Sagen Sie mal, kommt hier irgendwo Wasser rein?«
»Ja.«
Ich redete also schon wie anderer Leute Mütter.
Als wir vor dem Haus der Familie Kostnitz ankamen, blieben Kajo und ich noch im warmen Auto sitzen und sprachen über dieses und jenes. Wir konnten durch das große Fenster in das erleuchtete Wohnzimmer schauen und sahen den alten Kostnitz im warmen Schimmer der Stehlampe schlafend auf dem Sofa liegen. Eben betrat Schwester Beate den Raum. In der Hand ein gelbes Kissen. Sie ging auf den schlafenden Kostnitz zu. Ich stieß Kajo in die Seite und unterbrach damit seinen Bericht über das Studium in Wien.
»Da!«
Kajo schaute in Richtung Haus.
»Kajo, raus hier. Los, ins Haus!« Ich wollte so schnell wie möglich raus aus meinem Auto und rein ins Haus, um Schwester Beate davon abzuhalten, vor unseren Augen den alten Kostnitz mit dem Kissen zu ersticken. Kajo fasste meinen Arm und hielt mich zurück.
»Frau Abendroth, bitte. Schwester Beate ist in Ordnung.«
»Wie können Sie nur so ruhig sein? Sie ist meine einzige richtige Verdächtige.«
Kajo ließ meinen Arm los und zeigte wiehernd in Richtung Haus.
Tja, jetzt konnte ich es auch sehen. Sie schob ihm liebevoll das Kissen in den Nacken und deckte den alten Herrn sorgfältig zu. Das Rollo wurde heruntergelassen. Ende der Vorstellung.
»Entschuldigung«, prustete Kajo, »aber … wie Sie eben … tut mir Leid. Tut mir echt Leid. Schon allein der Gedanke, dass Schwester Beate mit einem Kissen …!«, lachte und prustete er aus vollem Hals.
»Ist es jetzt gut?! Ich hab’ schon verstanden«, sagte ich.
Kajo hörte nicht auf zu lachen.
»Aber wer, glauben Sie, hat dann Ihre Mutter auf dem Gewissen? Und Frau Becker und Herrn Manowski usw., usw.? Häh? Der Weihnachtsmann vielleicht?«, kreischte ich. Kajo hörte sofort auf zu lachen.
»Sie sollen mich nicht auslachen, Kajo.«
»Na, dann sind wir ja quitt, Frau
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