totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
Sie ein Herz für die alten Leute haben.«
Schwester Beates Handy klingelte. Sie holte es umständlich aus ihrer großen karierten Tasche und nahm das Gespräch an. Es war Kajo, der von ihr wissen wollte, wo sie die Alkoholvorräte versteckt hielt.
»Im Kamin, Kajo. Nein, der Terrassenkamin«, sagte sie resigniert, »… ich dachte, er würde wenigstens heute durchschlafen.« Offensichtlich hatte der alte Kostnitz das nicht vor. Mit einem Seufzer steckte sie das Handy wieder ein.
»Wenn er wenigstens jetzt, wo er täglich eine Bluttransfusion kriegt, mit dem Alkohol aufhören würde.«
»Bluttransfusionen?«
»Natürlich, wegen der Blutgerinnung. Ohne die würde er aus allen Knopflöchern bluten.«
Mir entfuhr ein heiseres Röcheln. Schon die Vorstellung allein verursachte mir Übelkeit. Wie kann ein Mensch aus allen Knopflöchern bluten? Bei vollem Bewusstsein?
Ich fuhr schweigend weiter und achtete auf die Straße, die immer mehr zum Kanal wurde. An vielen Stellen konnte ich die Fahrbahnmarkierung kaum noch erkennen, und auf dem nassen Asphalt drehten die Reifen ab und zu durch, wenn ich die Straßenbahnschienen streifte.
»Er wird sterben«, seufzte Schwester Beate in das Rauschen des Regens hinein.
»Ja. Traurig.«
»Der Arzt sagt, es kann jeden Tag soweit sein.«
Schwester Beate tupfte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Ich langte hinüber zum Handschuhfach und öffnete es. Der Wagen geriet leicht ins Schlingern. Schwester Beate nahm sich ein Papiertaschentuch und machte umständlich die Klappe wieder zu.
»Es ist nicht nur das. Es ist der Tod seiner Frau. Er macht sich Vorwürfe.«
»Dafür ist es jetzt zu spät, oder?«
»Zum Jammern ist es immer zu spät, aber zum Verzeihen niemals.«
»Und warum haben Sie ihm das gesagt? Meinen Sie, dass ihn das tröstet?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Sie hatte nur noch ein bisschen Fieber, und dann komme ich vom Einkaufen, und da liegt sie tot auf ihrem Bett.«
Wie bei Frau Becker.
»Schwester Beate, es ist doch nicht Ihre Schuld – oder?«
Schwester Beate schaute mich lange an. Ich spürte es mehr, als ich es in der Dunkelheit wirklich sehen konnte.
»Sie fangen auch schon an zu glauben, dass es meine Schuld ist, nicht wahr?«, stieß sie empört hervor. »Das tun Sie doch, oder?!«
»Ich glaube nix. Ehrlich! Warum sollte ich überhaupt was glauben? Ich hab’ doch nix damit zu tun!«
»Herr Bartholomae hat mich im Scherz schon Todesengel genannt. Damit scherzt man nicht, hab’ ich ihm gesagt. Damit scherzt man nicht.«
Oh nee, jetzt fing sie richtig an zu schluchzen.
»Schwester Beate, bitte. Beruhigen Sie sich. Was sagten Sie, war los mit der Bestattung von Frau Becker?«, versuchte ich abzulenken. Sie wurde richtig kiebig, als sie antwortete: »Sie haben vergessen, mich einzuladen. Frau Becker hat gesagt, sie hat eine Liste geschrieben für die Bestattung. Sie hatte alles organisiert, mit Sommer zusammen, und dann werde ich einfach vergessen.«
»Aber Schwester Beate, ich hab’ doch schon gesagt, dass niemand eingeladen war. So eine Verfügung gab es nicht.«
»Sie hören mir ja gar nicht zu! Und überhaupt, wo habt ihr sie denn verscharrt? Sie hat extra eine Grabstelle angeschaut. Die sollte gekauft werden. ‚Beate‘, hat sie zu mir gesagt, ‚ich liege dann Südseite. Dann hab ich den ganzen Tag Sonne.‘ Ich bin dabei gewesen. Sie wollte, dass diese Grabstelle gekauft wird.«
Sie weinte laut und hielt das Taschentuch fest in ihrer rechten Faust umklammert, »… und dann sagt der Mann auf dem Friedhof, sie liegt in irgendeinem Reihengrab! Anonym! Ich wusste noch nicht einmal, wohin mit den Blumen.«
Jetzt war ich sprachlos. Plötzlich herrschte sie mich an: »Sie können mich hier raus lassen.«
»Sind wir denn schon da?«
»Ich laufe den Rest.«
»Nein, das tun Sie nicht. Bei dem Wetter.«
»Halten Sie an. Sofort.«
Also fuhr ich bei der nächsten Gelegenheit rechts ran und sagte: »Schwester Beate – ich denke gar nicht, dass Sie ein Todesengel sind.«
Ich öffnete das Handschuhfach und drückte ihr ein neues Taschentuch in die Hand.
»Und das mit Frau Becker, das tut mir Leid. Sie hatte ganz andere Dinge in ihrem Vorsorgeplan. Ich habe es selbst gesehen. Sie wollte anonym bestattet werden. Sie nehmen sich das zu sehr zu Herzen. Frau Becker wollte Sie bestimmt nur nicht beunruhigen.«
»Nicht beunruhigen! Sie war wie eine Freundin zu mir. Warum sollte sie mir so einen Unsinn erzählen? Sie war doch nicht
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