Totgesagt
meiner Haut. Dann hörte ich draußen ein Geräusch. Füße, die sich über verrottende Blätter bewegten. Ich blieb liegen, zu müde, um mich zu bewegen, und begann schon wieder einzuschlafen. Da hörte ich das Geräusch ein zweites Mal.
Ich warf die Bettdecke zurück, stand auf und ging zum Fenster. Die Nacht war pechschwarz. In einiger Entfernung, längs der Küstenstraße, entdeckte ich Straßenlaternen und kleine Ansammlungen von Lichtern aus dem Nachbardorf. Ansonsten war es schwierig, irgendetwas zu erkennen, vor allem in der unmittelbaren Umgebung des Hauses.
Wieder frischte der Wind auf. Ich hörte, wie Blätter über den Boden getrieben wurden und Wellen gegen die felsige Küste schlugen – doch nicht mehr das Geräusch, das mich zuvor geweckt hatte. Ich wartete einen Moment, dann legte ich mich wieder hin.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und setzte mich an einen Tisch mit schöner Aussicht über den Atlantik. Direkt vor mir erhoben sich die verlassenen Gebäude der Zinnminen wie steinerne Arme, die nach den Wolken griffen.
Beim Frühstück breitete ich den Inhalt der Dose wieder vor mir aus und nahm mir das Polaroid von Alex vor. Er hatte zu dicht vor der Kamera gestanden, sodass Teile seines Gesichts nur undeutlich zu erkennen waren. Sein Haar war kürzer. Auf den Wangen lagen dunkle Schatten, wo die Bartstoppeln zu wachsen begannen. Hinter ihm war ein helles Rechteck zu erkennen, das nach einem Fenster aussah. Allerdings ließ sich nur erahnen, was hinter diesem Fenster lag. Ein Teil eines Gebäudes vielleicht, oder ein Dach.
Ich drehte das Foto um.
Auf der Rückseite stand: Du bist nie ein Fehler gewesen.
Ich entschloss mich, Kathy anzurufen.
Nach mehrfachem Klingeln nahm sie ab. »Kathy, hier ist David Raker.«
»Oh, hallo.«
»Tut mir leid, dass ich so früh morgens anrufe.«
»Kein Problem«, sagte sie. »Ich wollte mich gerade für die Arbeit fertig machen.«
»Ich habe die Dose geholt.« Ich drehte das Polaroid um und betrachtete Alex. »Können Sie sich erinnern, welche Fotos Sie hineingelegt haben?«
»Ähm … ich weiß nicht. Ich glaube, es waren einige von uns beim Grillen …«
»Erinnern Sie sich an das, auf dem Alex allein zu sehen ist?«
»Äh …« Ein kurzes Schweigen folgte. »Ich versuche, mich zu erinnern …«
Du bist nie ein Fehler gewesen.
»Ich sage Ihnen etwas: Ich mache ein Foto davon und schicke es Ihnen übers Handy, einverstanden?«
»Gut.«
»Ich mache zwei Aufnahmen – Vorder- und Rückseite. Werfen Sie einen Blick darauf, wenn sie ankommen, und rufen Sie mich dann gleich zurück.«
Ich beendete das Gespräch, machte zunächst eine Aufnahme von der Vorderseite des Polaroids, drehte es dann um und fotografierte auch die Rückseite. Ich schickte beide an Kathys Handy und wartete.
Ich schaute mich im Frühstücksraum um. Der Eigentümer füllte gerade Cornflakes in eine riesige Schüssel. Draußen, ein Stück vor der Küste, kam tuckernd ein Trawler in Sicht, hinter dessen Rumpf sich Wellen ausbreiteten.
Ein paar Minuten später klingelte mein Handy.
Stille.
»Kathy?«
Nach und nach hörte ich ihr Schluchzen lauter werden.
»Kathy?«
Ein langes Schweigen folgte. Dann hörte ich sie wieder weinen.
»Kathy – es ist Alex’ Handschrift, oder?«
Sie schniefte. »Ja.«
»Haben Sie das Foto gemacht?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Idee, wer es gemacht haben könnte?«
Wieder schluchzte sie, länger und heftiger.
»Nein.«
Ich schaute mir das Paloroid noch einmal an. Drehte es um. Folgte der Schrift mit einem Finger. Dann nahm ich den Brief, den Kathy an Alex geschrieben hatte.
Aber irgendwo würde es einen Zweifel geben, der vorher nicht da war, das unangenehme Gefühl, dass, wenn ich dir zu nahe käme, wenn ich dir zu viel Zuneigung zeigte, du eines Morgens aufstehen und fortgehen würdest.
Ich möchte mich nicht noch einmal wie ein Fehler fühlen.
»Haben Sie eine Ahnung, wo Alex sich auf diesem Bild aufhält?«
Weitere Schluchzer. »Nein.« Sie fing wieder an zu weinen, in einem langgezogenen Laut, der knisternde Störgeräusche in der Leitung hervorrief.
»Nein«, wiederholte sie – dann legte sie auf.
Also hatte Alex die Dose doch benutzt.
11
Alex starb auf einem Stück Landstraße zwischen dem nördlichen Stadtrand von Bristol und der Autobahn. Ich hatte das Gefühl, mir die Stelle ansehen zu müssen, doch zuerst
wollte ich seinen Freund John aufsuchen. Jeff hatte mir am Tag zuvor die Adresse seiner Arbeitsstelle
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