Totgesagt
Geschäftsmann , hatte er gesagt. Er verkauft den Leuten Ideen . Ich betrachtete Jade. Sie pickte in ihrem Essen herum.
»Wer ist der Kerl mit den Tattoos auf den Armen?«
Sie warf mir einen schnellen Blick zu – mit einer plötzlichen, ruckartigen Bewegung, als hätte jemand sie geschlagen. Sie riss die Augen auf, und die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, wie ich die Verbindung hergestellt hatte.
»Lassen Sie die Finger davon«, sagte sie leise.
»Wovon?«
»Von ihm.«
»Wer ist er?«
Sie hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stieß dann mit einem Finger auf das Foto des Jungen. »Er wird das, was dieses Bild repräsentiert, mit allen Mitteln schützen. Dafür würde er bis ans Ende der Welt gehen. Falls Sie das, was Sie wollen, bekommen können und dann verschwinden, ohne dass er etwas mitkriegt, sollten Sie das tun. Denn sonst besteht die einzige Chance, ihn aufzuhalten, darin, die ganze Sache zum Einsturz zu bringen.«
»Zum Einsturz zu bringen?«
»Das Kartenhaus.«
»Sie meinen Ihre Organisation?«
Sie nickte. »Aber ich glaube, dafür könnte es schon zu spät sein.«
»Warum?«
»Man weiß, wer Sie sind. Man hat Sie ein Mal gewarnt. So läuft es. Man gibt Ihnen eine Chance. Doch Sie sind heute Morgen zur Bar gekommen, zur Kirche gegangen … Man wird nur ein einziges Mal gewarnt.«
»Und was passiert als Nächstes?«
»Was als Nächstes passiert?« Sie schwieg, schaute mich an, und wir beide verstanden dieses Schweigen. Sie wissen, was als Nächstes passiert, Magnum.
»Warum?«
»Was glauben Sie?«
»Alex?«
Sie trank einen Schluck von ihrem Bier, antwortete aber nicht.
» Jade ?«
Ich hörte die wachsende Ungeduld in meiner Stimme. Sie verteidigte die Sache noch immer. Wich immer noch meinen Fragen aus, obwohl sie behauptete, aussteigen zu wollen. Ein Teil von ihr wollte sich befreien. Doch ein anderer Teil von ihr war so tief in diesem Leben verwurzelt, dass sie Angst hatte, es loszulassen. Und sie fürchtete sich auch vor den Konsequenzen, die dieses Loslassen auslösen würde.
»Warum helfen Sie mir?«, fragte ich.
»Weil die ganze Sache außer Kontrolle geraten ist.« Sie blickte mich an. Wischte sich Essensreste vom Mund. »Wir waren leichtfertig.«
»Wer ist wir?«
Sie antwortete nicht.
»Jade?«
»Wir.« Sie zögerte » Er .«
»Wer?«
Sie warf einen Blick auf das Foto, das immer noch auf dem Tisch lag.
»Der Junge?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte sie leise. »Sein Vater.«
»Der Mann mit den Tattoos?«
Sie schwankte. Unsicher, ob sie sich mir anvertrauen sollte.
»Jade?«
»Nein, nicht der.«
»Nicht der Mann mit den Tattoos?«
»Nein. Der Vater des Jungen …« Sie hielt inne und warf mir einen Blick zu. In ihren Augen blitzte etwas auf. »Ich glaube, in gewisser Weise ist er noch schlimmer.«
»Wer ist er?«
»Sie haben ihn verärgert.«
»Wer ist er, Jade?«
»Sie haben ihn richtig verärgert. Aber vielleicht passiert es aus einem guten Grund. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich noch an ihn glaube, an das, wofür er kämpft und wie er diesen Kampf führt.«
Wieder machte sie eine Pause. Ihre Augen wirkten traurig. Schließlich schaute sie zum Himmel. »Und ich glaube auch nicht, dass Er es tut.«
Ich folgte ihrem Blick. » Er ? Worum geht es hier … um eine Art göttliche Mission?«
Sie antwortete nicht, aber mir war klar, dass ich nicht ganz falsch liegen konnte.
»Jade?«
Sie schob ihren Teller beiseite. »Ich muss pinkeln.«
Dann war sie fort und bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch zu einem Toilettenhäuschen neben
dem Waggon. Sie schaute sich noch einmal um, ehe sie hinter der Tür aus meinem Blickfeld verschwand.
Ich wartete acht Minuten. Der Gedanke, dass Jade versuchen könnte zu fliehen, kam mir schon in dem Moment in den Sinn, als sie den Tisch verließ. Ich stand auf und ging auf das Toilettenhäuschen zu.
Der Weg dorthin war mit Müll übersät – Getränkedosen, Plastiktüten, ein Einkaufswagen, Nadeln. Auf der anderen Seite setzten sich die Bögen der Eisenbahnbrücke fort und verschmolzen nach und nach mit der Nacht. Ich entdeckte, dass auf der Rückseite des Häuschens eines der Fenster der Damentoilette geöffnet worden war. Außerdem zog sich von oben bis unten ein Sprung durch die Scheibe.
Ich trat dichter heran. In der Mitte des Sprungs, etwa dort, wo das oberste Viertel der Scheibe endete, war innen etwas am Glas verschmiert.
»Jade?«
Ich
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