Totgesagt
tippen”, stellte sie fest und hockte sich auf die Fersen. “Vermutlich griff er sich an die Brust, geriet ins Stolpern und schlug voll mit dem Kopf gegen die Ecke von dem Schrank dort. Hat ziemlich geblutet, also schlug das Herz beim Aufprall noch. Wahrscheinlich ist das die eigentliche Todesursache.”
Pontiff guckte hinüber zu dem Sideboard, auf das Butler wies. Madeline selbst sparte sich lieber den Anblick. Der blutige Riss, den sie flüchtig auf der Stirn des Toten gesehen hatte, erschütterte sie bis ins Mark. Tote übten auf sie generell eine schockierende Wirkung aus. Der leblose Körper ließ Erinnerungen an ihre Mutter wieder hochkommen – das Öffnen der Schlafzimmertür, die dunkle Gestalt, die, kaum erkennbar, bei dicht geschlossenen Jalousien auf dem Boden lag wie ein achtlos liegen gelassenes Kleidungsstück. Sie wusste noch, wie sie zu ihr stürzte und schrie: “Mama! Mama! Was hast du?” Wie sie ihre Mutter an den Schultern packte und schüttelte, sich tief über sie beugte, weil sie keine Antwort gab. Und wie sie, als ihre Augen sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnten, das Loch in ihrer Schläfe sah.
Auf einmal fühlte sie sich in dem winzigen Zimmer klaustrophobisch eingeengt, sodass sie am liebsten hinausgestürzt wäre, um gierig nach Luft zu schnappen. Angesichts der auf der Couch sitzenden, schluchzenden Schwester des Toten fiel ihr dann aber ein, dass sie hier ja gar nicht die Trauernde war. Also rückte sie etwas näher an den jungen Polizisten heran, dabei peinlichst bemüht, bloß nicht über Gebühr Aufmerksamkeit zu erregen. “Sag bloß, die Schwester hat ihn gefunden!”, raunte sie Norman zu.
Er nickte. “Sie hatten sich wohl zum Einkaufen verabredet. Als er nicht aufmachte, ging sie rein und …” – er wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn – “… und dann hat sie uns alarmiert.”
Die Genannte mischte sich nun in die gedämpft geführte Unterhaltung. “Wenn er zu Hause war, hat er sonst nie abgeschlossen”, schniefte sie tonlos in den Raum hinein. “Also, warum heute? Ich habe ja ‘nen Schlüssel, aber den konnte ich nicht finden. Da stand ich hilflos da!”
Norman schaute zu der aufgedunsenen Leiche hinüber und wurde noch eine Spur bleicher. Der Schweiß trat ihm immer heftiger auf die Stirn. Viel zu durcheinander, um der weinenden Helen zu helfen, ließ er Madeline gewähren, die sich an ihm vorbeizwängte und sich vor der Schluchzenden auf ein Knie niederließ. “Ahnten Sie denn, dass da etwas nicht stimmen konnte, Helen?”
“Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich ihn den ganzen Morgen anrief und er nicht ans Telefon ging. Ich hab’s sogar bei Ray nebenan versucht, aber der hat ihn auch nicht erreicht.”
“Meinen Sie, Ihr Bruder war womöglich noch am Leben, als Sie hier eintrafen?”
“Da machen Sie sich mal keinen Kopf”, warf die Rechtsmedizinerin ein. “Das war mit Sicherheit nicht der Fall.” Madeline hätte es lieber gesehen, wenn diese Butler es etwas schonender gesagt hätte, aber so war sie nun mal. Die Geduldigste oder Einfühlsamste war sie nicht, dafür aber tüchtig. Angesichts ihres grausigen Metiers war ihre kühle, sachliche Art vermutlich nötig für ihr emotionales Gleichgewicht. “Nach der Körpertemperatur zu urteilen trat der Tod vor mindestens acht Stunden ein.”
Während sie das auf ihr Klemmbrett notierte, nahm Madeline die Schwester des Toten bei der Hand. “Alles klar?”, murmelte sie.
“Warum hat er bloß die Tür abgeschlossen?”, jammerte Helen wieder. “Machte er sonst nie, wenn er zu Hause war.”
Madeline konnte da nur den Kopf schütteln.
Pontiff stand auf. “Wie sind Sie denn reingekommen?”
“Mit dem Schlüssel. Den hatte ich dann endlich aufgetrieben. Bubba hat ihn mir vor einiger Zeit gegeben – für alle Fälle, falls er seinen mal verliert. Nur wenn ich ihn abholte, weil wir irgendwohin mussten, dann sperrte er ab. Damit ihm die ganzen Typen hier in der Gegend nicht das Bier klauten. Mehr hatte er ja nicht. Ein paar Flaschen Bier.” Sie brach in Tränen aus. Ihre Tochter legte den Arm um sie und redete beruhigend auf sie ein. “Ist ja gut, Mama, ist ja gut.”
“Ich kann’s nicht fassen, dass er tot ist”, schluchzte sie.
Kratzend fuhr der Kuli von Ramona Butler über den Block, auf dem sie gerade die Kopfwunde skizzierte. “Bei dem Übergewicht war das abzusehen. Das konnte nicht lange gut gehen.”
“Meine Worte!” Helen nickte, immer noch schniefend. “Ich
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