Totgesagt
küsste das Kind auf die daunenweichen Haare und atmete tief durch, als wolle sie sich versichern, dass schon irgendwie alles gut werde. “Kein Husten mehr?”
“Nicht mal mehr Schnupfen.”
“Na, prima.” Die Kleine auf eine Hüfte gepackt, nahm sie all ihren Mut zusammen und wies mit dem Kopf auf Hunter. “Darf ich dir Mr. Solozano vorstellen?”
Er reichte Grace die Hand. “Hunter, wenn’s recht ist.”
Grace schlug nicht gleich ein. Bis jetzt hatten sich alle ziemlich reserviert verhalten. “Hunter?”, sagte sie schließlich und erwiderte nun doch seinen Händedruck. “Heißen Sie schon von Geburt an so? Oder ist das ein Spitzname, den sie sich in Ihrem Metier zugelegt haben?”
“Nein, von Geburt an.”
“Interessant. Hört man nicht oft, den Namen.”
Er wich etwas zurück und lehnte sich gegen einen Pfosten der Überdachung. Madeline fiel auf, dass er sich betont zwanglos und zurückhaltend gab, ganz anders als auf der Farm. “Stimmt.”
Grace hüllte sich in Schweigen und überließ die Gesprächsführung ihrem Besuch. Madeline ergriff daher die Initiative, hoffte sie doch, die verkrampfte Atmosphäre etwas lockern zu können. “Stell dir mal vor, die Fluggesellschaft hat sein Gepäck verbaselt!”
“Na, so was.” Grace lächelte ausdruckslos.
“Soll aber morgen nachkommen”, fügte Madeline hinzu.
“Na, hoffentlich kommt es wohlbehalten an!”
Erneut verfiel alles in Schweigen. Dann konnte Madeline nicht länger an sich halten. “Hunter hat sich die Tagebücher meiner Mutter vorgenommen.” Warum sie ausgerechnet diese Einzelheit erwähnte, war ihr selber schleierhaft. Vermutlich aus lauter Nervosität und um Grace zu demonstrieren, dass sie Hunter nicht aus Misstrauen gegenüber Clay und Elaine nach Stillwater geholt hatte. Hunters Interesse an den Tagebüchern und an den herausgerissenen Seiten bedeutete nur, dass er in alle Richtungen ermittelte, und zwar umfassender, als Madeline erwartet hatte.
Sonderbarerweise aber sah es so aus, als werde Grace durch die Erwähnung der Tagebücher nicht lockerer. Im Gegenteil, sie wirkte noch förmlicher als vorher. “Ich dachte, sie hätte die meisten verbrannt”, sagte sie.
“Aber nicht alle.”
Grace heftete ihren tiefgründigen Blick auf Hunter. “Und was entnehmen Sie diesen Tagebüchern, Mr. Solozano?”
“Nicht viel”, betonte er. “Madelines Mutter erwähnt allerdings eine ganze Reihe Menschen, die ich gern näher kennenlernen würde.”
Nach Namen erkundigte sich Grace nicht. Ob sie die wohl sowieso schon kannte? Allmählich hatte Madeline das Gefühl, als habe Hunter sie schon dazu gebracht, alle und jeden zu verdächtigen …
Schluss damit! Ich will das nicht denken …
“Erinnern Sie sich an eine Rose Lee Harper?”, fragte Hunter.
“Sie starb vor meinem Umzug nach Stillwater”, erwiderte Grace. “Ich kenne ihren Vater, allerdings eher flüchtig.”
“Wohnt der noch hier?”
“Im Wohnwagenpark
Shady Glen
, abseits der Digby Road”, murmelte Madeline. “Er haust da in so einem Großraum-Wohnwagen und jobbt als Gelegenheitsarbeiter.”
Wolken schoben sich vor den Mond und warfen tiefe Schatten, die Hunters Gesichtszüge verdunkelten. Dennoch sah er immer noch attraktiv aus – und ein wenig geheimnisvoll dazu. “Ist Mr. Harper denn nicht des Öfteren auf der Farm gewesen?”
“Nicht während meiner Zeit”, sagte Grace.
“Ray und mein Vater überwarfen sich, ehe Dad wieder heiratete”, fügte Madeline erklärend ein.
“War Ihnen das bekannt?”, fragte er Grace.
“Kann sein, dass Madeline es mal erwähnte.”
Hunter rammte die Hände in die Hosentaschen. “Wissen Sie, um was es bei dem Streit ging?”
Auf Graces normalerweise glatter Stirn bildeten sich etliche Falten. “Nein, aber … wie gesagt, das war vor meiner Zeit.”
“Ich glaube, mein Vater war es leid, die Miete für Ray zu bezahlen”, vermutete Madeline. “Ich habe mal mitgehört, wie sie sich wegen Geld anschrien.”
“Kannst du dich an den Wortlaut erinnern?”
“Ray forderte mehr, und Dad lehnte ab.”
“Wann war das?”
“Einige Wochen vor dem Selbstmord meiner Mutter.”
“Also nach dem Tod von Rose Lee und Katie?”
“Richtig. Anscheinend hatte mein Vater nicht mehr so viel Verständnis für Rays finanzielle Probleme, da der ja kein Kind mehr zu unterhalten hatte.”
“Hast du gegenwärtig noch Kontakt zu Ray Harper?”
“Nein”, sagte Madeline, “gar keinen. Wieso?”
Der Anflug eines Lächelns
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