Totgesagt
betont, mit ihr sei nichts; dass sich ihr Höschen in dieser Reisetasche befunden habe, das nehme sie nicht ernst.
Von wegen nicht ernst … Dabei war sie auf der Polizeiwache kreidebleich geworden. Außerdem hatte sie sich seitdem kein einziges Mal mehr bei Madeline gemeldet, obwohl sie beide sonst mehrmals pro Woche miteinander telefonierten.
“Ein ansehnlicher Besitz!”, entfuhr es Hunter, als sie vor dem historischen Herrenhaus von Grace und Kennedy ankamen.
Madeline ließ den Blick über die weiten Rasenflächen und tipptopp gepflegten Gartenanlagen schweifen, die im fahlen Licht des Vollmondes noch makelloser wirkten. Der warme Schein, der durch die Fenster fiel, wirkte so anheimelnd wie ein Weihnachtskartenidyll. Dennoch traute Madeline sich kaum einen Schritt weiter. Was mochte heute wohl noch alles auf sie zukommen?
“Drinnen ist es genauso toll”, bemerkte sie und stellte den Motor ab. Dass die aus einer der ärmsten Familien der Stadt stammende Grace in eine der reichsten eingeheiratet hatte, machte die Lovestory zwischen ihr und Kennedy zu einer Art Aschenputtel-Romanze. Das hier war Graces Märchenschloss, das schönste Haus in ganz Stillwater.
Inzwischen jedoch fragte sich Madeline, ob Graces Kindheit nicht noch schlimmer gewesen war, als alle gedacht hatten – Madeline eingeschlossen.
“Worauf warten wir noch?”, sagte Hunter, da sie keine Anstalten machte, gleich auszusteigen.
“Auf nichts.” Sie knöpfte den Mantel zu – es sah aus, als würde die Nacht ziemlich windig werden – und kletterte aus dem Toyota.
Als sie ums Auto herumkam, stand Hunter bereits am Fuße des Gartenweges. “Ist Grace ein ebenso harter Brocken wie ihr Bruder?”, fragte er ironisch.
“Gewissermaßen.” Grace trat zwar nicht so rabiat auf wie Clay oder Tante Elaine, war aber ansonsten ebenso zugeknöpft. Und da Hunter zweifelsohne als Bedrohung für Clay empfunden wurde, konnte man davon ausgehen, dass Grace ihm auf keinen Fall über den Weg traute. “Nicht ganz so unverblümt.”
“Aber genauso stur.” Offenbar hatte er den vorsichtigen Unterton in ihrer Stimme richtig gedeutet.
“Grace verbirgt ihre Gefühle hinter kühlem, kultiviertem Gehabe.”
“Du willst damit sagen, sie schützt sich vor anderen, indem sie sich sachlich gibt.”
Sie musste seinen Scharfsinn bewundern, ob sie wollte oder nicht. Doch genau dieser Durchblick, dieser Intellekt, der ihr allmählich Respekt einflößte, machte ihr gleichzeitig auch Angst. Denn Respekt vor seiner Meinung bedeutete, dass sie ihm auch glauben musste, selbst wenn er ihr mit der schlimmsten aller möglichen Nachrichten kam. “Genau. Ist eine Überlebenstaktik, die sie sich schon früh angeeignet hat. Möglicherweise das Ergebnis der vielen üblen Nachreden und Verdächtigungen, denen sie nach dem Verschwinden meines Vaters ausgesetzt war.”
“Versteht sie sich gut mit Clay?”
“Jetzt schon. Vorher kam sie mit uns allen nicht so besonders gut zurecht.”
Für weitere Unterhaltung über Grace blieb ihnen keine Zeit, denn eine Bewegung an einem der oberen Fenster verriet Madeline, dass man sie entdeckt hatte.
“Komm.” Sie trat auf die breite Terrasse, wo braune Korbmöbel mit grünen Sitzkissen auf den Frühling warteten.
Die Terrassenleuchte flammte auf, und schon stand Grace in der Tür. Auf ihrem Arm trug sie das sieben Monate alte, in eine Flauschdecke gehüllte Baby. Sie begrüßte Madeline mit einer Umarmung, die allerdings steif und verkrampft wirkte, und als sie Hunter musterte, lag ein mehr als argwöhnischer Ausdruck auf ihrem Gesicht. “Na, das ist ja eine angenehme Überraschung”, rief sie, wieder an Madeline gewandt. “Ich hatte gar nicht mir dir gerechnet.”
Madeline war bemüht, ihre Beklommenheit zu verdrängen – die Stimme auf dem Anrufbeantworter gleich mit – und ihr Augenmerk stattdessen lieber auf die kleine Isabelle zu richten, die gleich für positive Stimmung sorgte. Sie nahm die Kleine an sich, gab ihr ein paar Küsschen aufs Kinn und wurde mit kicherndem Babygurren belohnt. “Wie geht’s denn meinem Schätzelein?”, rief sie. Ach, wie einfach das Leben im Grunde hätte sein können, und zwar für alle! Ein gemütliches Heim, eine liebe Schwester, ein lachendes Baby.
“Ausgezeichnet”, erwiderte Grace für ihre Tochter.
Diese schien derselben Ansicht zu sein. Lallend stopfte sie sich ein fleischiges Fingerchen in den kleinen, speicheltriefenden Mund und grinste Madeline fröhlich an.
Madeline
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