Totgeschwiegen (Bellosguardo)
krank. Oder doch? Ich weiß es nicht. Sie hat einem Lastwagen die Vorfahrt genommen und ist nahezu ungebremst in ihn reingeprallt. Sie war sofort tot. Ein Infarkt oder Schlaganfall wurde später ausgeschlossen. Die Bremsen an ihrem Auto waren auch in Ordnung gewesen. Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass es wegen ...“ Abrupt hörte er auf zu sprechen. Gedankenverloren blickte er auf seine Hände. Und dann sprach er gepresst weiter:
„Isabelle, bitte lass uns über etwas anderes sprechen. Ich kann und möchte darüber nicht reden.“
„Wie du meinst. Aber wenn du das Bedürfnis haben solltest, bin ich für dich da.“ Isabelle griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie sah ihm tief in die Augen. Er sah so unglaublich traurig aus. Schnell wandte er den Blick ab und zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche.
„OK, dann lass uns mal zahlen. Ich bin müde.“ Auf einmal schien er von Unruhe befallen.
„Ja, ist gut. Alexander, da ist noch etwas.“ Isabelle wusste, dass sie dieses Thema schon viel früher hätte anschneiden müssen. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir im Gästezimmer übernachten? Mir kommt es nicht richtig vor, in dem Bett im Schlafzimmer zu schlafen. Irgendwie war es ja auch das Bett deiner Frau ...“
Alexander sah sie nachdenklich an. „Wenn du meinst. Ich will, dass du dich in dem Haus wohlfühlst. Wir machen alles so, wie du es möchtest.“
Wunderbar. Er war wirklich ein sensibler Mann. Aber warum fühlte sie sich gerade wieder wie ein Eindringling? Lag es daran, dass Alexander gerade so abwesend war und an den Unfall seiner Frau gedacht hatte? Hatte sie die Trauer, die Alexander offensichtlich immer noch mit sich rumtrug, unterschätzt? Oder lag es nur daran, dass ihn gerade hier, so viel an seine tote Frau erinnerte?
8
Es war noch mitten in der Nacht. Das Zimmer lag in absoluter Dunkelheit. Isabelle drehte sich zur Seite und tastete nach Alexander. Sein Platz im Bett war leer. Sie stand auf und ging leise durch das dunkle Zimmer. Der Terracott aboden war kalt unter ihren nackten Füßen. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich. Sie tastete nach dem Lichtschalter an der Tür und griff nach ihrer Strickjacke. Knarrend öffnete sie die alte Holztür des Gästezimmers und trat auf den Flur. Von unten aus dem Erdgeschoß hörte sie leise Musik.
Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Alexander saß in dem schwach erleuchteten Zimmer auf der abgewetzten Couch mit dem Rücken zu ihr und hielt einen Bilderrahmen in der Hand. Schon von der Tür aus konnte sie erkennen, dass sich ein Foto von Katharina, ihm und den beiden Kindern in dem Rahmen befand. Das Foto war ihr am Nachmittag schon aufgefallen. Eine glückliche Familie strahlte, gut gebräunt, auf diesem Bild.
Alexander hatte sie bis jetzt noch nicht bemerkt. Sie zögerte. Sollte sie wieder zurück ins Bett gehen oder sich bemerkbar machen? Warum war sie nur so unsicher? Was würde eine andere Frau in ihrer Lage tun?
Was möchte ich denn tun? Ihn mit den Gedanken an seine Familie allein lassen? Eigentlich möchte ich wissen, was er denkt und was er fühlt. Wie sollen wir uns sonst nah sein?
Isabelle machte einen Schritt auf Alexander zu und räusperte sich. Sie wollte ihn auf keinen Fall wieder erschrecken.
Alexander zuckte dieses Mal auch nicht zusammen. Langsam drehte er sich um und lächelte sie an.
„Habe ich dich mit der Musik geweckt?“, fragte er besorgt und legte den Bilderrahmen auf den Couchtisch vor ihm.
„Nein, ich bin davon aufgewacht, dass du nicht neben mir lagst. Darf ich mich zu dir setzen?“
„Aber sicher. Komm her.“
Sie setzte sich neben ihn aufs Sofa. Er schlang seinen Arm um sie und griff nach einer Wolldecke. Zärtlich hüllte er sie in die Decke und zog sie dichter an sich.
Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Eine Zeitlang saßen sie schweigend nebeneinander.
„Weißt du Isabelle, es fällt mir immer noch schwer, hierher zu kommen. In den letzten drei Jahren war ich mit Maya und Anna nur ganz selten hier. Ab und zu bin ich allein hergefahren, um nach dem Haus zu sehen. Und natürlich auch nach dem Grab. Die Gärtnerei vom Friedhof kümmert sich zwar wirklich gut um die Pflege und auch Giulietta sieht ab und zu nach dem Rechten, aber seit ich das Haus in München verkauft habe, ist dieses hier der einzige Ort, an dem ich Katharina noch spüren kann.“
„Das verstehe ich. Hier
Weitere Kostenlose Bücher