Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Ich könnte ihn doch sowieso nicht abhalten.
Warum bin ich nicht wütend auf ihn? Seinetwegen leide ich wie noch nie zuvor. Bin ich zu tief verletzt, um Wut zu verspüren?
Soll ich ihn verlassen? Fast täglich stelle ich mir diese Frage. Könnte ich ohne ihn leben? Wenn er tot wäre, müsste ich auch ohne ihn leben. Aber er ist nicht tot. Er lebt und ich will mit ihm zusammen sein. Ich liebe ihn doch.
Ich muss ihm verzeihen. Irgendwie. Sonst kann ich nicht weitermachen. Ich weiß, dass ich mir selbst das größte Geschenk bereiten würde, wenn ich meinen Frieden mit der Sache mache.
Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm verzeihe und nie wieder darüber sprechen will.
Er war erleichtert aber auch skeptisch. Ich bin es auch.
Warum bin ich immer noch so traurig? Er ist so lieb und bemüht. Mit allen Mitteln versucht er, es wieder gut zu machen. Ich weiß, dass er sich über jedes Lächeln von mir freut.
Ich will wieder ich selbst sein und endlich einen Tag erleben, an dem ich nicht daran denken muss.
Isabelle holte tief Luft. Das war das Geheimnis. Deswegen war Katharina so unglücklich gewesen.
Wa rum hatte Alexander seine Frau bloß betrogen?
Hatte seine Affäre etwas mit ihrem Unfall zu tun? Die Absätze wirkten teilweise wie zusammenhangslos. Als ob sich Katharina den Schmerz von der Seele schreiben musste. Ob sie sich jemandem anvertraut hatte? Bis jetzt konnte Isabelle das in den Zeilen nicht entdecken.
Isabelle scrollte den Text runter.
Sollte sie weiterlesen? Was tat sie hier überhaupt? Sie hatte kein Recht, die privaten Aufzeichnungen von Katharina zu lesen.
Allerdings ging es hier um ihren Mann. Der Mann , von dem sie geglaubt hatte, dass er seine verstorbene Frau niemals betrogen hätte.
Wahrscheinlich kam zu seiner Trauer um Katharina das schlechte Gewissen.
Wann hatte Katharina das alles geschrieben? Auf jeden Fall nach dem 20. August. Der Sommer, in dem sie so unglücklich gewesen war.
Isabelle schloss das Dokument und sah im Finder nach, wann die Datei das letzte Mal geändert wurde. Es war der 12. März vor drei Jahren. Ein Tag vor Katharinas Tod. Isabelle kannte das Datum. Sie hatte Alexander danach gefragt. Sie ging davon aus, dass er um den Todestag herum, bedrückt sein würde und sie hatte wissen wollen, wann damit zu rechnen war.
Was hat sie einen Tag vor ihrem Tod geschrieben?
Wie ferngesteuert öffnete Isabelle die Datei erneut und ging direkt zum Ende des Textes.
Damit kann ich nicht leben.
Oh, mein Gott. War Katharina immer tiefer in ihrem Kummer versunken? War sie depressiv geworden?
Isabelle scrollte den Text nach oben und überflog die Zeilen.
Baby.
Was für ein Baby? Isabelle hielt inne und versuchte, den Sinn der Zeilen zu erfassen.
Sie hat Kind. Ein Baby. Ich habe sie gesehen. Ist es seins? Es muss noch ganz klein sein. Sie schob einen Kinderwagen. Wie alt ist es? Wann hat sie das Kind bekommen? Arbeitet sie noch in der Fima? Ist sie noch seine Assistentin? Alexander hat die Frau seit Weihnachten nie wieder erwähnt. Auch nicht beiläufig.
Wie bitte? Alexander hatte ein Kind mit seiner Assistentin? Isabelle fiel auf, dass der Name dieser Frau nie von Katharina erwähnt worden war. Warum eigentlich?
Sie überflog den Text weiter.
Ich werde noch verrückt. Ich muss etwas tun. Soll ich ihn fragen? Ich traue mich nicht. Die Angst, dass es wahr sein könnte, ist zu groß.
Ich halte es nicht mehr aus. Ich werde zu ihrer Wohnung fahren. Soweit ich weiß, arbeitet sie freitags nicht. Darüber hatte sich Alexander schon mal in der Vergangenheit geärgert.
Natürlich hat sie f reitags frei – ich habe sie ja letzten Freitag mit dem Kinderwagen am Marienplatz gesehen.
Ich brauche die Adresse. Wo bekomme ich die her??????
Akazienweg 37
Und dann war Isabelle beim letzten Eintrag angelangt.
Damit kann ich nicht leben.
Was war passiert? Hatte Katharina die Frau aufgesucht und war danach verunglückt? War sie so verwirrt und verstört gewesen, dass sie den Lastwagen übersehen hatte? Oder war sie absichtlich ...
Isabelle zitterte am ganzen Körper.
Wusste Alexander, dass Katharina bei der Frau gewesen war? Wusste er, warum dieser Unfall möglicherweise passiert war?
Wie konnte er mit dieser Schuld leben? Hatte er deswegen das Haus in München verkauft und war drei Jahre lang rastlos durch die Welt gehetzt? In München war er immer nur ein paar Tage im Monat. Da schlief er dann im Hotel –
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