Totgeschwiegen (Bellosguardo)
freie Zeit mit dir verbringe.“
„Die wollen dich bestimmt vom Internat nehmen.“
„Warum das denn?“
„Weil diese Schule ein Schwein egeld kostet, Anna. Und die Frau deines Vaters will dieses Geld bestimmt für sich. Pass bloß auf, was du ihr schreibst, die dreht dir noch einen Strick draus und überzeugt deinen Vater davon, dass es viel günstiger ist, wenn du in Italien zur Schule gehst.“
„So ein Quatsch. Ich mache nächstes Jahr Abi. Mein Vater würde mich niemals noch mal die Schule wechseln lassen.“
„Wenn du dich da mal nicht täuschst.“
„Domenik, lass es bitte. “
„I ch will dich nicht verlieren, Anna. Ich kann nicht zulassen, dass sie dich zwingen, nach Italien zu ziehen.“
„Aber das hat doch keiner gesagt. Isabelle will nur mit uns essen gehen.“
„Ich gehe nicht mit dieser Frau essen und ich möchte auch nicht, dass du dich mit ihr triffst.“
„Domenik, das ist die Frau meines Vaters. Nicht eine Freundin oder ein Freund. Sie ist jetzt so etwas wie Familie.“
„Familie. Dass ich nicht lache. Was hast du denn schon für eine Familie? Dein Vater kümmert sich kein Stück um dich. Deine Schwester hat sich nach Australien abgesetzt und deine Mutter ist tot. Du hast keine Familie, Anna.“
„Das reicht mir jetzt , Domenik, ich gehe zurück in mein Zimmer.“
„Warte , Anna.“ Domenik sprang von seinem Schreibtischstuhl auf. „Jetzt sei doch nicht traurig.“ Er griff nach ihrem Arm. Zu fest. Wieder einmal. Anna stöhnte leise. Er hatte soeben auf einen ihrer blauen Flecken gefasst. Ihr Aufstöhnen schien ihm nicht entgangen zu sein. Er lockerte umgehend seinen Griff und zog sie nun behutsam in seine Arme. Er sah ihr durchdringend in die Augen.
„Anna, ich will doch nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machs t und dann enttäuscht wirst.“
„Ich gehe jetzt mal.“
Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wandte sich aus seiner Umarmung und griff nach ihrer Schultasche.
„Jetzt sei doch nicht traurig, Anna , mein Schätzchen. Ich bin für dich da, das weißt du doch.“
Sie nickte und ging zur Tür.
„Komm nachher besser etwas später. Du weißt ja, nach einer Party sind die Lehrer scharf wie Schießhunde.“
Sie nickte wieder und verließ das Zimmer.
Niederge schlagen ging sie den schwach erleuchteten Weg entlang. Von weitem konnte sie die hell erleuchtete Turnhalle sehen. Dumpf erklangen die Bässe der Musik in der Ferne. Es war erst kurz nach zehn. Die Party war noch in vollem Gange. Domenik hatte recht. Heute Nacht würde ein reges Ein- und Aussteigen der Schüler in andere Häuser stattfinden. Das war immer so nach Partys. Eigentlich war es keine gute Nacht, um sich zu Domenik zu schleichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Kleber mitten in der Nacht einen Kontrollgang durch die Mädchenzimmer machen würde, war auf jeden Fall gegeben.
Wenn sie diese Nacht einfach in ihrem Bett bleiben würde? Aber dann würde Domenik wütend werden. Und sie hatte in der letzten Zeit schon ein paar Wutanfälle von ihm mitbekommen. Sie schauderte. Bei seinem letzten Ausbruch hatte er seine Schreibtischlampe gegen die Wand geworfen und das nur , weil er eine Matheaufgabe nicht verstanden hatte.
Domenik erschreckte sie immer meh r. Seine Stimmungen wurden zunehmend unberechenbarer. Von null auf hundert wechselten seine Launen. Lag das wirklich nur an dem bevorstehenden Abitur oder gab es noch etwas anderes, was ihn bedrückte?
Sie hatte sich geschworen , ihm zu helfen und ihm beizustehen so gut sie konnte. Sie musste nur noch bis Juni durchhalten. Dann würde das Abitur vorbei sein und Domenik das Internat verlassen. Danach würden sie sich nur noch an den Wochenenden sehen können. Anna warf erneut einen Blick auf die Turnhalle und seufzte.
Dann kann ich mich endlich wieder frei bewegen, mich mit Freunden treffen und auf Partys gehen.
Aber sie würde ihn auch schrecklich vermissen, das wusste sie. Sie liebte ihn schließlich über alles. Er war der Halt, nachdem sie sich solange gesehnt hatte. Und er war immer für sie da. Was sie von ihrem Vater nicht sagen konnte. Mittlerweile meldete der sich zwar häufiger, aber mehr als ein paar oberflächliche Worte tauschten sie bei den kurzen Telefonaten nicht aus. Ihr Vater war wie Maya. Von ihrer Schwester hatte sie seit Wochen nichts mehr gehört. Domenik hatte schon irgendwie recht. Sie hatte keine richtige Familie. Sie hatte nur ihn.
Tränen des Selbstmitleids liefen ihr die Wangen
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