Totgeschwiegen
den Lieferwagen und versuchte, das rosafarbene Stückchen zu sich hinzuschieben. Im gleichen Moment hörte sie das Knacken eines Astes und hielt inne. Ihr war sofort klar, dass dieses Geräusch nicht von einem Tier stammte. Ganz offensichtlich war sie nicht allein.
War das Clay? Am liebsten hätte sie nach ihm gerufen, falls er sein Gewehr bei sich trug. Womöglich würde er erst schießen und dann fragen. Aber sie wollte sich nicht verraten. Vielleicht hatte er den Lichtschein gesehen und wollte nachsehen, was es war? Dann konnte sie sich immer noch verstecken. Wenn er sie heute Nacht ertappte, würde es allerdings sehr schwierig werden, ihr Vorhaben in der kommenden Nacht durchzuführen.
Sie schaltete die Taschenlampe aus, schob sie unter den Lieferwagen und kroch dann ebenfalls darunter. Der Geruch nach feuchten Blättern drang in ihre Nase. Sie lag auf dem Bauch und wartete ab. Es war eine unangenehme Situation. Jetzt lag sie direkt über der Leiche ihres Stiefvaters. Sie versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben, aber sie konnte nicht anders, als sich sein Skelett vorzustellen und sich auszumalen, wie es die Arme nach ihr ausstreckte, um sie zu sich ins Grab hineinzuzerren …
Wieder knackte es. Wer auch immer es war, er kam näher. Grace bemühte sich, langsam und regelmäßig zu atmen. Vor Clay hatte sie eigentlich keine Angst, sondern fürchtete nur, dass er ihre Pläne vereiteln könnte, wenn er sie jetzt entdeckte. Sie wusste, sie würde niemals zur Ruhe kommen, wenn sie die Überreste ihres Stiefvaters nicht in Sicherheit gebracht hatte, und zwar dort, wo niemand sie jemals finden konnte.
Sie würde seine Knochen irgendwo in Tennessee im Wald vergraben. Und wenn sie dann wider Erwarten jemand aufstöbern sollte, wäre niemand in der Lage, sie mit jenem Mann in Verbindung zu bringen, der vor zwei Jahrzehnten in einem ganz anderen Bundesstaat verschwunden war.
Lee Barker wäre endgültig verschwunden. Und sie wäre frei und könnte Kennedy heiraten.
Aber die Stiefel, die sich jetzt näherten, sahen überhaupt nicht aus wie die von Clay. Es waren kunstvoll verzierte Cowboystiefel, keine Arbeitsschuhe, das war auch in der Dunkelheit deutlich zu sehen. Außerdem ging diese Person nicht so wie ihr Bruder.
Wer war das?
“Gra-ace! Gra-ace, wo bist du? Ich weiß, dass du hier bist.”
Ihr Herz pochte bis zum Hals. Es war Joe!
“Hör auf mit dem Versteckspiel, Grace”, sagte er. “Ich habe die Bibel.”
Sie ballte die Fäuste. Das war unmöglich! Er konnte die Bibel nicht haben. Kennedy hatte sie doch zerstört. Das hatte er ihr selbst gesagt.
“Ich hab die letzten paar Stunden damit verbracht, all die netten Dinge zu lesen, die er über dich geschrieben hat. Er hat dich wirklich gemocht, wusstest du das? Über Madeline hat er nicht so schöne Sachen geschrieben, dabei war sie seine leibliche Tochter.”
Grace hatte keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach, und wollte auch nicht darüber nachdenken. Kennedy konnte Joe doch nicht die Bibel gegeben haben. Aber woher hatte er sie dann bekommen? Und was hatte ihr Stiefvater über sie geschrieben?
Ihr Magen krampfte sich zusammen.
“Und dann habt ihr ihn so schlecht behandelt”, fuhr Joe fort. “Ihr habt ihn umgebracht, stimmt’s? Ich habe gesehen, wie du die Schaufel aus der Garage geholt hast. Ich weiß ganz genau, was du vorhast.”
Nachdem sie Kennedys Haus verlassen hatte, hatte sie bestimmt tausendmal in den Rückspiegel gesehen. Sie hätte auch eine Seitenstraße genommen, aber es gab nun mal nur eine Straße, um von der Stadt zur Farm zu gelangen. Aber sie hatte keine Scheinwerfer hinter sich bemerkt. An der Kreuzung war sie an einem anderen Wagen vorbeigefahren, aber darin hatte nur eine Frau gesessen. Wie war er ihr gefolgt?
Das alles fragte sie sich, aber es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er war jetzt hier, und das war das Problem. Selbst wenn er die Bibel nicht besaß, wusste er doch, was darin stand. Und nun hatte sie ihn auch noch direkt zum Grab ihres Stiefvaters geführt.
Mit dem Gedanken an eine glückliche und sorgenfreie Zukunft war sie ein großes Risiko eingegangen. Und nun sah es ganz so aus, als würde sie alles verlieren.
Das Telefon riss Kennedy aus dem Tiefschlaf. Er war erschöpft und hätte es am liebsten ignoriert, fürchtete aber, es könnte seine Mutter sein, die ihm Neuigkeiten über den Zustand seines Vaters mitteilen wollte.
Er schob das Durcheinander von Decken und Laken beiseite, das er
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