Totgeschwiegen
atemloser klang, als er eigentlich war, denn er hatte ja nur den kurzen Weg vom Parkplatz hierherlaufen müssen.
“Wer will denn den alten Jed beklauen?”, brummte Joe. “Mann, wenn jemand unbedingt einen Schraubenschlüssel braucht, kann er ihn gern von mir kriegen.”
“Ich habe den Lichtschein einer Taschenlampe gesehen”, sagte Ronnie. “Wir sollten rübergehen und nachschauen.”
Kennedy blickte sehnsüchtig auf den grünen Filz. Nur noch ein Stoß … nur ein einziger noch, und das Spiel würde beendet sein. Aber Joe und die anderen stürmten schon aus dem Lokal. Selbst wenn er die Kugel jetzt ordentlich versenkte, wäre es umsonst, weil keine Zeugen mehr da waren. Er konnte genauso gut mitgehen und nachschauen, was da los war. Wahrscheinlich irgendwelche Halbstarken, die mal wieder über die Stränge schlugen. Andererseits war heute Donnerstag, und deshalb war es eher ungewöhnlich. Außerdem war Jeds Werkstatt ein ziemlich untypischer Ort für Jugendliche, die ihre Kräfte erproben wollten.
“Ruf die Polizei”, sagte er zu Pug, dem Barkeeper.
Er sah noch, wie der Mann zum Telefon griff und die Nummer wählte, dann rannte er nach draußen auf den Parkplatz.
Grace starrte die Bibel an, die sie gerade gefunden hatte. Draußen wurden Stimmen laut, und sie schreckte zusammen. Einen Moment lang gaben ihre Knie nach, als der panische Gedanke durch ihr Gehirn schoss: Jetzt kriegen sie uns! Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte.
Sie hörte ein dumpfes Geräusch. Madelines Taschenlampe war zu Boden gefallen. Sie hob sie wieder auf und machte sie aus. “Da kommt jemand”, flüsterte sie. “Wir müssen hier raus.”
Der Hund auf dem Nachbargrundstück wurde unruhig und begann zu bellen.
Grace war ratlos. Sollte sie die Bibel im Aktenschrank liegen lassen oder mitnehmen?
In ihrer Panik war sie zu keinem Entschluss fähig. Sie knipste ihre Taschenlampe aus und schob die Bibel wieder an die Stelle, wo sie sie gefunden hatte. Dann wurde ihr klar, dass der Einbruch schon verdächtig genug war und jede Menge Fragen provozieren würde. Natürlich würden alle sich fragen, was dahintersteckte, und wenn sie dann die Bibel mit dem Namen und den Randbemerkungen des verschwundenen Reverends fanden, würden sie Jed danach fragen. Und dann wäre er gezwungen zu erzählen, wo er sie her hatte. Er konnte sie doch nur in der Nacht an sich genommen haben, als Lee Barker ums Leben gekommen war. Grace wusste noch, dass die Bibel aus der Jackentasche ihres Stiefvaters gefallen war, als sie seine Leiche über die Verandatreppe gezerrt hatten. Sie hatte versucht, das Buch wieder zurückzustopfen, aber vielleicht war es ja ein zweites Mal herausgerutscht und irgendwo im Schatten zu Boden gefallen.
So könnte es gewesen sein. An diesem Abend war sie nicht mehr ganz bei sich. Das war allen so gegangen.
“Grace!”, rief Madeline, die schon an der Tür war.
Grace presste ihre Hand gegen die Stirn.
Denk nach! Oh, Gott. Was soll ich nur tun?
Aber es war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Die Rufe und Schritte von draußen kamen näher. Sie konnte sogar schon die Stimmen unterscheiden.
Sie schloss die Tür des Aktenschranks und sprang auf, um Madeline zu folgen. Kaum war sie bei ihr angelangt, wurde ihr jedoch klar, dass sie die Bibel auf keinen Fall zurücklassen
durfte.
Sie konnte ihre ganz Familie ins Unglück stürzen.
“Wir müssen uns trennen”, sagte sie. “Du gehst dort lang und ich …” Sie suchte verzweifelt nach einer Alternative. “… ich klettere durchs Fenster in der Toilette.”
“Aber was ist, wenn …”
“Los!”, kommandierte Grace und gab ihrer Stiefschwester einen Schubs.
Madeline drückte ihren Arm, um ihr zu zeigen, dass sie verstanden hatte, und huschte nach draußen.
Lauf
, dachte Grace,
lauf!
Aber sie selbst hatte das Gefühl, nur im Zeitlupentempo voranzukommen. Sie tastete sich durch die Dunkelheit zurück zum Aktenschrank, holte die Bibel wieder heraus und steckte sie in den Bund ihrer Shorts.
Sie hörte die Männer an der Eingangstür und beeilte sich, in die Toilette zu kommen. Wenn sie sich nicht unter Jeds Schreibtisch verstecken wollte, war dies die einzige Möglichkeit zur Flucht.
Instinktiv tastete sie nach der Taschenlampe. Sie hasste die Dunkelheit, und jetzt hatte auch noch vergessen, wo sie das verdammt Ding hingelegt hatte.
Dann hörte sie jemanden rufen. “Da! Ich seh ihn! Da drüben!” Und schon entfernten sich die Schritte in die andere
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