Totgeschwiegen
Das Geräusch ging Grace ziemlich auf die Nerven. Madeline begann hastig, die Schubladen aus den Schränken zu ziehen, der Lichtschein ihrer Lampe huschte hin und her, während sie weitersuchte, bis sie den verschlossenen Aktenschrank gefunden hatte.
“Das ist er”, stieß sie atemlos hervor.
Grace drehte sich erwartungsvoll zu ihr um. “Soll ich dir helfen?”
“Nein, das muss er sein. Du kannst ja die anderen Schränke durchsehen, ob da vielleicht noch was ist.”
Madeline holte ein weiteres Gerät aus ihrem Rucksack, und Grace wandte sich wieder ihrer eigenen Durchsuchungsarbeit zu. Sie wollte gar nicht wissen, was ihre Schwester jetzt wieder Schreckliches vorhatte. Inzwischen hatten sie sich schon eine ganze Reihe von Gesetzesübertretungen zuschulden kommen lassen.
Als sie einen lauten Knall hörte, wusste sie, dass Madeline es geschafft hatte, die Schublade zu öffnen. Der Gedanke daran, dass Jed morgen früh einen aufgebrochenen Schrank vorfinden würde, war ihr mehr als nur peinlich.
“Bring bloß nicht alles zu sehr durcheinander”, warnte sie. “Es ist schon schlimm genug.”
“Ich musste das Schloss aufbrechen”, sagte Madeline. Sie war viel zu aufgeregt, um Bedauern oder Reue zu empfinden. “Aber so schlimm ist es gar nicht. Er wird kaum merken, dass wir hier gewesen sind.”
“Na klar, er wird bestimmt denken, dass er die Schlösser selbst demoliert hat. So was passiert einem ja ständig.”
Madeline antwortete nicht. Sie stöberte in den Schubladen herum.
“Was gefunden?”, fragte Grace.
“Bis jetzt nicht.”
Grace hörte die pulsierenden Rhythmen der Musik aus der Billardhalle, die bis hierher drangen. Jed war schon sehr lange im Geschäft und schien alle Papiere aufzubewahren.
“Der übertreibt wirklich”, stellte sie fest. “Einige von diesen Ordnern sind ja schon über zehn Jahre alt.” Sie fand sogar welche, die noch viel älteren Datums waren.
Madeline sagte nichts.
“Vielleicht sollte jemand Jed mal klarmachen, dass das Finanzamt nur bis zu sieben Jahre alte Unterlagen prüft.”
“Das kannst du ihm ja mal mitteilen”, murmelte Madeline. Sie hatte einen Ordner aufgeschlagen und blätterte ihn konzentriert durch.
Grace wiederum sichtete die Akten auf ihrer Seite eher nachlässig. “Ich werde ihm bestimmt gar nichts mitteilen.”
“Hm”, brummte Madeline vor sich hin.
“Vielleicht solltest du mal einen Artikel zu diesem Thema in deine Zeitung setzen”, schlug Grace vor. “Du könntest Jed als abschreckendes Beispiel nennen.”
“Gute Idee.”
Madeline hörte gar nicht zu. Grace nahm sich vor, mit dem nervösen Geplapper aufzuhören. Sie schloss die Türen des mittleren Aktenschranks und wandte sich dem dritten zu. Dieser Schrank war sehr alt und sah ziemlich mitgenommen aus. Sie begann im oberen Regal, wo eine Menge Staub lag, ein paar lose hingelegte uralte Unterlagen, ein zerbrochener Kaffeebecher und weitere Ordner mit Papieren, die fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahren alt waren.
“Ach du meine Güte”, murmelte Grace vor sich hin, als sie sich langsam nach unten arbeitete und die Ordner immer nachlässiger prüfte. Was sollte das auch? Madeline hatte ja den mysteriösen verschlossenen Aktenschrank gefunden und kämmte ihn gerade durch. Was hatte sie schon noch zu tun?
Aber dann bemerkte sie etwas und bekam eine Gänsehaut. Die Zeitangaben auf den Ordnerrücken näherten sich immer mehr dem Datum jener schrecklichen Nacht vor achtzehn Jahren. Und mit einem Mal fragte sie sich, ob Jed wohl die Unterlagen für die Traktorreparatur auf der Farm der Montgomerys aufbewahrt hatte und ob da womöglich etwas zu finden war.
Fieberhaft durchsuchte sie die Unterlagen aus dem Monat August, konnte aber kein Papier mit dem entsprechenden Datum finden. Aber sie fand die Kopie einer Rechnung vom Folgetag.
Sie zog ihre Handschuhe aus, um das Papier aus dem Ordner zu nehmen. Die Rechnung war auf den Namen ihrer Mutter ausgestellt. Das war eigenartig; der Reverend hatte sich doch sonst immer um die “Männersachen” gekümmert.
Sie hielt den Zettel mit einer Hand fest und durchsuchte den nächsten und übernächsten Ordner. Alle vorherigen Rechnungen waren auf den Namen ihres Stiefvaters ausgestellt. Hatte Jed etwa schon am Morgen nach der Tat gewusst, dass Lee Barker für immer verschwunden war? Falls ja, war er der Einzige. Die Gemeinde hatte zwei Tage gebraucht, um überhaupt mit der Suche nach dem Vermissten zu beginnen. Noch nie zuvor war ein
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