Totgeschwiegen
aufgeben. Er schaute hinüber zu den Eisenbahngleisen, die das Brachland am Rand der Stadt durchschnitt. Der Junge hatte längst das Weite gesucht; andernfalls müsste er irgendwo zu sehen sein.
So, wie er sich bewegt hatte, kannte sich der Einbrecher in dieser Gegend nicht besonders gut aus. Wenn er in diese Richtung lief, würde er zweifellos am Fluss ankommen. Doch wie wollte er ihn überqueren? Schwimmen? Im Dunkeln? Wenn er dieses Risiko nicht eingehen wollte, würde er nicht weit kommen. An dieser Stelle beschrieb der Fluss einen Bogen. Das Land wurde an drei Seiten von Wasser begrenzt.
Kennedy durchquerte im Dauerlauf das Brachland, ließ die Eisenbahnschienen hinter sich und erreichte das kleine Wäldchen am Fluss. Leider war hier kaum noch etwas zu erkennen. Das Dickicht und die Blätter versperrten die Sicht und ließen das Mondlicht nicht bis zum Erdboden durchdringen. Der Junge konnte in mehrere Richtungen gelaufen sein. Vielleicht aber auch nicht. Es war auch möglich, dass Kennedy falsch lag und der Junge sich hier in der Gegend doch gut auskannte. Vielleicht hatte er sich flach auf den Boden gelegt und wartete ab.
Kennedy blieb stehen und horchte. Er hörte den Schrei einer Eule, sonst nichts.
Er drang tiefer ins Gestrüpp ein, bemühte sich, so leise wie möglich voranzukommen, und näherte sich dem Fluss. Ab und zu hielt er an und horchte. Dieses Spielchen konnte man natürlich ewig fortsetzen. Er ging zehn Minuten lang das Waldstück ab und bemerkte nichts.
Er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, zurückzugehen und ein paar Männer mit Taschenlampen zu holen. Gerade als er sich entschlossen hatte, genau das zu tun, hörte er einen Schreckensschrei. Gar nicht weit entfernt, sogar viel näher, als er gedacht hatte. Offenbar war der Junge verletzt.
Jetzt hatte er ihn.
Kennedy arbeitete sich durch das Gestrüpp und bemühte sich, in der Finsternis etwas auszumachen. Plötzlich drang das blasse Mondlicht durch das Blätterdach. Er konnte einen Schatten auf dem Boden erkennen. Offenbar hatte sich der Junge in dem dichten, stacheligen Brombeergebüsch verheddert, das am Flussufer wucherte.
Kennedy arbeitete sich durch das Dickicht hindurch, packte den Jungen am T-Shirt und zerrte ihn aus dem Buschwerk. Dann setzte er ihn unsanft vor sich auf den Boden.
“Was glaubst du eigentlich …”, begann Kennedy seine Schimpftirade. Aber der Junge drehte sich zur Seite und sprang auf die Füße. Er wollte flüchten. Kennedy hielt ihn fest. Der Junge wehrte sich.
“Was soll das denn?”, rief Kennedy aus, als sie zusammen zu Boden gingen. Aber mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Körper unter ihm viel zu weich war, um zu einem Jungen zu gehören.
Er riss ihm die Baseballmütze vom Kopf und erstarrte verwundert.
Das war ja eine Frau, und zwar nicht irgendeine. Es war Grace Montgomery.
7. KAPITEL
G race bekam keine Luft mehr. Sie konnte auch nicht mehr klar denken. Es gab nur einen einzigen Gedanken in ihrem Kopf:
Weg!
Ich muss hier weg! Sie versuchte, Kennedy abzuschütteln oder beiseitezudrücken, aber sie zitterte bereits am ganzen Körper – und er war einfach zu stark.
“Lass mich los!”
“Hör auf zu schlagen!”
Sie konnte nicht aufhören. Sie war verzweifelt. Wenn er die Bibel bei ihr finden würde, dann wäre noch viel mehr als nur ihr Job in Gefahr.
“Beruhige dich”, sagte er. “Ich … ich wollte dir doch nicht wehtun.” Er drückte ihre linke Hand zu Boden. “Ich dachte …” Er hielt auch ihre andere Hand fest, als er merkte, dass sie auf dem Boden nach etwas suchte, einer Wurzel vielleicht, die ihr helfen könnte, sich von ihm frei zu machen. “… du bist ein Junge.”
Noch bevor sie antworten konnte, hörte Grace eine zweite Stimme. Es war Joe Vincelli. Er arbeitete sich durch das Gestrüpp und rief: “Kennedy? Wo bist du?”
Grace erstarrte. Am liebsten wäre ihr gewesen, der Boden unter ihr würde nachgegeben und sie verschlingen.
Kennedy hob den Kopf, antwortete aber nicht. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, es war einfach zu dunkel.
Nun wandte er sich wieder ihr zu. “Was machst du denn hier?”, flüsterte er barsch. “Wieso bist du in Jeds Werkstatt eingebrochen?”
Sie antwortete nicht, ihr fiel auch gar keine Ausrede ein. Und was spielte es schon für eine Rolle, was sie ihm erzählte? Er hatte sie doch sowieso immer nur für Abschaum gehalten. Jetzt hatte er endlich den Beweis gefunden, dass er schon immer recht gehabt
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