Totgeschwiegen
hatte.
“Keine Panik, okay?” Er klang jetzt ruhiger und freundlicher. “Erzähl mir einfach, um was es hier geht. Ich habe nicht die leiseste Idee, was das soll, aber ich hätte es schon gern gewusst.”
Er redete mit ihr wie mit einem verängstigten Kind. Seine Freundlichkeit kam ihr aufgesetzt vor. Sie wusste ja schließlich, was er und seine Freunde von ihr hielten.
Sie bäumte sich auf, um ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, und starrte ihn feindselig an.
“Grace? Was soll das alles?”, drängte er.
Der Regen fiel jetzt noch dichter. Sie spürte die Feuchtigkeit des Bodens und die Tropfen auf ihrem Gesicht. Am Rande ihres Blickfelds bemerkte sie den Lichtkegel von Joes Taschenlampe zwischen den Baumstämmen.
“Hallo?”, rief Joe, während er näher kam. “Kennedy? Wo bist du? Ich sehe doch, dass hier jemand durchgekommen ist.”
Ganz offensichtlich hatte Joe ihre Spuren im Unterholz entdeckt, und es fiel ihm nicht schwer, ihnen zu folgen. Außerdem hatte er ja Licht.
Grace schloss die Augen, weil sie jede Sekunde damit rechnete, dass der Lichtschein sie traf. Aber dazu kam es nicht. Kennedy sprang auf, zog sie hoch, schob sie hinter sich ins Gebüsch und zischte: “Los, hau ab.”
Kennedy konnte nicht fassen, was er da eben getan hatte. Er hatte eine Einbrecherin laufen lassen – und dabei kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters.
Er versuchte sich mit dem Argument zu beruhigen, dass eine Festnahme für Grace den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeutet hätte und dass er ihr das nicht zumuten wollte, bevor er nicht die Gründe für ihr merkwürdiges Verhalten kannte. Aber in Wahrheit wusste er, dass sein Motiv ein anderes war. Er hatte gespürt, wie sie zitterte, er hatte ihre Angst bemerkt, und obwohl sie ihn um nichts gebeten hatte, wollte er sie beschützen. Er erinnerte sich an das, was sie zu seinem Sohn gesagt hatte: “Du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten.”
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Bedürfnis verspürt, sie an sich zu ziehen, um sie vor dem Regen zu schützen. Sie war so unnahbar und gleichzeitig so zerbrechlich.
Ganz ruhig, meine Süße. Ich werde dich beschützen.
Aber das war ja der reine Wahnsinn. Für sie war er ein Feind und kein Retter.
Joe tauchte zwischen den Bäumen auf. “Da bist du ja. Warum hast du nicht geantwortet?”
Kennedy trat einen Schritt zurück und stand plötzlich mit einem Fuß auf etwas flachem Eckigem. Ein fester Gegenstand, womöglich ein Buch? Jedenfalls war es keine Pflanze und kein Stein. Es war nicht eben gerade vom Himmel gefallen. Ganz offensichtlich hatte Grace es verloren.
Er wollte Joe auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, denn womöglich würde eine Entdeckung Grace in Schwierigkeiten bringen. “Da ist noch eine zweite Person aus der Werkstatt gerannt, also bin ich hinterher. Beinahe hätte ich ihn gekriegt.”
Joe leuchtete mit seiner Taschenlampe das Brombeergebüsch ab. Man sah ziemlich deutlich, dass jemand dort hineingelaufen war, aber Joe schien sich zu fragen, wo er in diesem stacheligen Gestrüpp abgeblieben war. “Er muss noch in der Nähe sein”, stellte er fest. “Los, komm.”
Kennedy bückte sich und hob hastig das Ding auf, das Grace dort verloren hatte. Er schob es unter sein T-Shirt in den Hosenbund und hielt Joe am Arm fest: “Da bin ich schon gewesen.”
Joe suchte weiter die Umgebung mit seiner Lampe ab. “Der kann doch nicht weit gekommen sein. Dahinter ist doch der Fluss.”
Das feuchte Ding in Kennedys Hosenbund fühlte sich an wie ein Buch. Aber warum sollte Grace aus Jeds Werkstatt ausgerechnet ein Buch stehlen? Es war wirklich rätselhaft. “Er ist weg. Außerdem hat es angefangen zu regnen. Gehen wir lieber zurück.”
“Nass sind wir doch sowieso schon.”
“Ich glaube, er ist wieder zurückgerannt. Hier ist er bestimmt nicht mehr.”
“Hast du gesehen, wer es war?”
“Ich hab ihn nicht erkannt, aber er war nicht sehr groß. Wahrscheinlich ein Teenager.”
Joe suchte rundum alles ab. “Das war garantiert kein Teenager.”
Der Beschützerinstinkt, den Kennedy einige Augenblicke zuvor so überraschend bei sich registriert hatte, meldete sich erneut. Er verstand gar nicht, warum er sich so stark zu Grace hingezogen fühlte, jetzt, wo sie doch erwachsen waren. Natürlich wollte er, dass sie ihm wegen seines Verhaltens in der Vergangenheit verzieh, aber er wollte auch, dass sie ihn mochte, und das
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