Totsein ist Talentsache (German Edition)
gar nicht mehr erinnern?“ Anna ist heute ein Medium
für Wettererscheinungen. Zum dritten Mal durchzuckt sie ein Blitz und
beleuchtet lange vergessene Bilder. Natürlich - das hat er oben im Ballsaal
sagen wollen! Ihre beiden Mütter sind Freundinnen gewesen, bevor die Fechmanns
aufs Land gezogen ist. Die Familien haben damals viel Zeit miteinander
verbracht: Die Väter haben mit ernsten Mienen politisiert, die Mütter lächelnd
geplaudert. Und dann ist da noch Bernd gewesen. Der schüchterne, pummelige
Bernd, der bei jeder Gelegenheit geheult hat wie ein Baby. Erstaunlich, was 20
Jahre und ein guter Schneider aus einem Menschen machen können.
Die Zeit hat es gut gemeint mit Bernd, nicht aber das Schicksal. Sophie
hat öfter von den Fechmanns erzählt. Bernd hat innerhalb kurzer Zeit beide
Elternteile verloren. Und zwar auf ähnliche Weise wie Anna ihren Vater:
Marianne Fechmann ist ziemlich hurtig die Karriereleiter emporgestiegen und zur
Innenministerin ernannt worden. Ihr Mann Walter ist hinterher geklettert und
bekleidet seit sieben Jahren das Amt des Bundeskanzlers. Fast schon grausam,
wenn es in einer Familie gleich zwei politische Großkaliber gibt. Die
Staatsgeschäfte haben Marianne und Walter sehr verändert: Im Gegensatz zu
früher ist es heute sie , die düster politisiert, während er ständig grinst.
Bernd ist kurz nach der Matura wieder nach
Wien gezogen und hat erfolgreich sein Medizinstudium absolviert. Zu dieser Zeit
ist die Beziehung zu seinen Eltern noch innig gewesen. Der kometenhafte
Aufstieg seiner Eltern hat ihn jedoch zum Stroh-Vollwaisen gemacht und er hat
kaum noch Kontakt zu ihnen. Geschenke, allfällige Zuwendungen und
Aufmerksamkeiten werden seither durch Assistenten der beiden übermittelt.
„Wie wär´s, wenn wir noch mal ganz von
vorne anfangen? Ohne Drama diesmal, wenn möglich. Also: Hallo, ich bin Bernd.“
Ein ausgezeichneter Zeitpunkt für einen Neubeginn, findet Anna. Vor allem, weil
sich die Erde gerade so schön schnell dreht und die am Nachthimmel schwebenden
Katzenbabys der Szenerie einen angemessen romantischen Rahmen geben. Langsam
richtet sie sich auf und holt tief Luft. Das „A“ schafft sie mit Bravour, der
Rest ihres Namens landet zusammen mit einer bunten Mischung aus Weißwein,
Lachsstückchen und einer halben Kirschtomate auf Bernds Lackschuhen.
27. Juni
2012. Und der Tag danach.
„So, Schluss.
Acht Stunden arbeiten müssen heute mal reichen. Danke für deine Hilfe, Jo. Wenn
du Zeit hast, könntest du dann zuhause vielleicht noch diese eine
Spendengala-Geschichte nachprüfen? Du kannst das viel schneller. Am Computer
bist eindeutig du das Genie! Aber das weißt du eh, gell?“ Anna drückt Jo einen
Kuss auf die Wange. „Ich muss mich noch behübschen. Ich treff mich gleich mit
Bernd.“ Mit einem Seufzer folgt Jo ihr aus ihrem Wohnzimmer, das sie zu einer
Autorenwerkstatt umfunktioniert haben. Der Raum erweckt den Eindruck, man säße
in einem Papiermüllcontainer. Auf jedem Regal, jedem Fensterbrett und sogar auf
dem Piano sind Notizen und Zeitungsartikel verteilt. Aber dafür, dass da zwei
leidenschaftliche Dickschädel am Werk sind, läuft die Arbeit ganz gut. Für
ihren Traum hat Anna sogar den Job bei der ÖK.h aufgegeben. Nicht, dass
das ein schmerzhafter Verzicht für sie gewesen wäre. Nicht in emotionaler und
schon gar nicht in finanzieller Hinsicht. Nur Sophie hat es nicht ganz
verkraftet und hält ihrer Tochter seither Vorträge über die Unverzichtbarkeit
eines eigenständigen Einkommens. Trotz - oder gerade wegen - Annas neu
definiertem Beziehungsstatus.
Wenn man sein Innerstes nach außen kehrt und vor
einem anderen Menschen ausbreitet, verbindet das in gewisser Weise. Anna ist
der Vorfall vom Maifest furchtbar peinlich gewesen. Mindestens zwei Tage lang.
Aber sie mag Bernd nun mal sehr gerne und hat letztendlich beschlossen, dass es
nun zumindest nicht mehr viel schlimmer werden kann. Folglich schämt sie sich
jetzt nur mehr ein bisschen. Auch, weil Bernd sein bestes tut, um sie die
Begebenheit vergessen zu lassen.
Bernd tut überhaupt sein bestes. Sogar bei ihrem
ersten Streit. Bernd hat angesichts Annas Bibliothek gemeint: „Ich hab ja nicht
gedacht, dass du dein süßes Köpfchen mit so schwerer Literatur vollstopfst.“
Anna versteht keine Witze, wenn es um ihre Bücher geht. Besonders nicht, wenn
man sie für ein hübsches Dummchen hält. Es hat Bernd viel Mühe gekostet, ihr zu
erklären, dass das nur ein Scherz gewesen ist. Und
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