Totsein ist Talentsache (German Edition)
Grinsend
schlüpft Anna hinterher und läuft die Stufen hinauf in den dritten Stock. Ein
wenig atemlos drückt sie den Klingelknopf neben der massiven Metalltür und
verflucht jede einzelne Zigarette, die sie am Vorabend geraucht hat. Anna
raucht nicht oft, aber wenn, dann viel. Jeder braucht ein Hobby.
„Mach endlich auf, Jo! Ich bin´s! Wer sollte sonst
freiwillig hierher kommen?“ ruft sie, als Jo minutenlang durch den Spion blickt
und sie mit Fragen traktiert. „Na schön. Der Wellensittich meiner Mutter heißt
Mausi. Mein Ex-Chef nimmt seinen Kaffee nie mit Milch, weil er nur Tee trinkt.
Du hast eine Narbe über dem rechten Auge, weil ich dich mal gegen den Kopierer
gestupst habe. Und wenn du nicht gleich aufmachst, brauchst du dir bald keine
Gedanken mehr über deine Familienplanung machen, das schwör ich dir!“ Paranoia
schön und gut, aber das geht nun doch ein bisschen zu weit. Endlich hört Anna,
dass Jo die Tür entriegelt. Einen Bolzen zur Seite schiebt. Die
Sicherheitskette aus der Verankerung hebt und schließlich aufmacht. Immer noch
skeptisch schnüffelt er an ihrem Hals und zieht sie in die Wohnung.
Anna weiß nicht,
was genau sie erwartet hat, aber das ganz bestimmt nicht. „Du musst
entschuldigen, wie es hier aussieht. Das ist noch vom Vormieter und ich hab
bisher weder die Zeit noch den Geist gehabt, das in Ordnung zu bringen“, meint
Jo, als er sie durch die Wohnung führt. Anna glaubt sich auf die Titelseite von Schöner Wohnen versetzt. Jedes Möbelstück, jedes Accessoire hat seinen
Platz und genießt in unverrückbarer Perfektion das Dasein. Staunend drückt sie
Jo die Wurstsemmeln in die Hand, die sie unterwegs gekauft hat, und folgt ihm
in sein Arbeitszimmer.
Es ist, als würde man eine andere Welt betreten. Als
hätte eine böse Hexe kurz mal ihren Besen geschwungen und einen Teil des
blühenden Märchenwaldes in eine eisige Wüste verwandelt. „Ein Original Mulder.
Handsigniert“, denkt Anna, als sie sich in dem kunstvoll arrangierten Chaos
umblickt. Die Dominanz der Bildschirme, Festplatten und Lautsprecher wird von
zahlreichen Disketten und Kabeln formvollendet unterstrichen, während
Zeitungsartikel, Notizblätter und Fotos an den Wänden die Szenerie gediegen
untermalen. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich dem geneigten Betrachter,
dass hier schlicht und ergreifend seit Langem nicht mehr aufgeräumt worden ist.
Es riecht auch ein wenig muffig. Als Anna das Fenster aufreißen will, sucht sie
es vergeblich.
Dort, wo ein Rahmen mit viel Glas drin sein sollte,
klebt ein riesengroßes Poster mit dem Titel Es gibt immer einen größeren
Fisch . Darunter sind zwei distinguierte ältere Herren zu sehen, die sich
prügeln.
„Das sind quasi
meine Götter. Der linke ist mit den Viktor Hofer Systems extrem
erfolgreich gewesen, bis der andere ihm mit der Dornbacher Video Diskette das Wasser abgegraben hat“, erklärt Jo. Den Schmäh verstehen wahrscheinlich nur
Eingeweihte. Anna ist schon froh, wenn sie einen Computer von einem
Haushaltsgerät unterscheiden kann. Dabei ist es doch ganz einfach: alles, was
die halbierte Marille als Logo hat, eignet sich nicht zum Backen oder Wäsche
waschen.
Nachdem Anna den speckigen Schreibtischsessel auf
Schmutz und niedrige Lebewesen inspiziert hat, nimmt sie darauf Platz und
blickt direkt auf eine detaillierte Ansicht ihres Dekolletés. Klar, dass Jo
Bilder von ihr am Rechner hat. Fraglich allerdings, ob solche Sujets den
Bildschirm auch tatsächlich schonen.
„Also Jo, was ist so bedeutsam, dass ich dafür sogar
deine heiligen Hallen betreten darf? Und bitte erzähl es mir in einfachen
Worten, wenn es etwas mit dem Zeug hier zu tun hat.“ Anna ist ein intelligenter
und interessierter Mensch. Aber an manchen Dingen scheitert ihr Verständnis.
Großräumig. Weil für Anna alles, was mit Zahlen, Technologie und kalten
Apparaten zu tun hat, nun mal keinerlei Ästhetik besitzt. Und daher in ihrem
Weltbild keinen Platz hat. In Annas Vorstellung leben ganz viele Zwerge in den
Computern, die all die Dokumente und das Netz verwalten. Leute, die gut mit
einem PC umgehen können, haben Annas Meinung nach einfach den perfekten Draht
zur Zwergen-Gewerkschaft. Das kommt dabei raus, wenn man seine Nase ständig in
Bücher steckt.
Jo wirft die Wurstsemmel, an der er eben noch
genüsslich gekaut hat, auf den Drucker, legt eine theatralische Pause ein und
sagt: „Ich muss dich warnen: Du wirst Dinge sehen, die dein Weltbild von Grund
auf
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