Totsein ist Talentsache (German Edition)
nachgedacht. Richtig versunken ist sie in ihre
Betrachtungen über Max und sein Schicksal gewesen. Zu tief offenbar. „Opa? Max?
Wo bist du? Komm sofort wieder her, du kannst hier nicht alleine herumlaufen!
Max!“
Hier und da
singt ein Vogel sein Schlaflied. Von der Straße ist schwach das Rauschen des
Verkehrs zu hören. Nur der Abendwind trägt aus der Ferne aufgeregte Rufe und
Stimmengewirr über die Wiese. Von Max ist nicht ein Laut zu hören. Kein
verträumtes Gemurmel durch dicke Mullbinden. Kein ausgelassenes Lachen beim
Verfolgen eines Schmetterlings. Kein unterdrücktes Kichern aus einem Versteck.
Einen Menschen verliert man doch nicht einfach so.
Nicht, wenn er aussieht wie Max. Schon gar nicht hier. An einem Ort, an dem die
Skalpelle schnell und die Spritzen tief fliegen. Und der vermutlich die
Hochburg des personifizierten Bösen ist. Eher unwahrscheinlich, dass Max von
einem ehrlichen Finder beim Portier abgegeben wird.
Jetzt wird auch Bernd nervös. Er lässt die
Kaffeebecher fallen und beginnt, mit Anna die Umgebung abzusuchen. „Weit kann er
nicht gekommen sein. Vielleicht bin ich kurz mit den Gedanken woanders gewesen,
aber höchstes einen Augenblick lang. Opa ist bestimmt ganz in der Nähe. Er muss
einfach hier irgendwo sein.“ In einer Mischung aus Selbstvorwürfen und
Verzweiflung versucht Anna, sich Mut zu machen. Doch selbst der dritte Blick
unter jeden Busch und hinter jede Ecke lässt Max nicht wieder auftauchen.
Obwohl es kaum möglich ist, dass der alte Mann sich weiter entfernt hat, bleibt
Anna und Bernd nichts übrig, als ihren Aktionsradius zu erweitern. Sie müssen
sich beeilen. Es ist schon ziemlich dunkel, und die Chancen, den Großvater zu
finden, schwinden mit jeder Minute.
Anna wirft einen
letzten Blick auf die kleine Parkanlage hinter dem Hauptgebäude, in der
Hoffnung, dass Max mit Gebrüll oder schelmisch lachend hinter einem Baum
hervorspringt. Das tut er nicht. Ist nicht anders zu erwarten gewesen. Doch da
ist etwas anderes, das plötzlich Annas Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das ist
vorhin noch nicht da gewesen. Oder sie haben es nicht beachtet. Aber vielleicht
ist es eine Spur. Hoffnungsvoll geht Anna auf den weißen Fleck hinter dem Busch
zu und greift danach. Es ist ein Stück Mullbinde, gesprenkelt mit orangerotem
Desinfektionsmittel. Wenig überraschend hängt kein Max dran. Aber eine von Erde
und Gras fast vollständig verdeckte Tür, die in den Boden eingelassen ist.
Der rostige Flügel der Pforte lässt sich erstaunlich
leicht und geräuschlos öffnen. Ein seltsamer Geruch schlägt Anna entgegen, als
sie sich niederkniet und über die Öffnung beugt. Es riecht metallisch. Nach
Chemikalien. Und schon etwas abgestanden. Aber nicht so stickig, wie man meinen
sollte. Schwaches Licht schimmert aus einem unbestimmten Nirgendwo in der
Tiefe. Nachdenklich streicht Anna über die Außenseite des Tores. Erde und Gras
fühlen sich frisch an. Zu frisch, um seit Jahren ein Schattendasein hinter
einem dichten Strauch nahe der Mauer zu führen. Als wären sie erst kürzlich
dort angebracht oder zumindest mit Bedacht gepflegt worden.
Anna kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu
können. Eine Holztreppe führt in die Tiefe. Das untere Ende kann Anna nicht
erkennen. Die Bretter sind fleckig und an manchen Stellen etwas abgetreten.
Aber sie scheinen nicht sehr alt. Das eiserne Geländer, das auf der einen Seite
verläuft, scheint überhaupt erst vor Kurzem angebracht worden zu sein. Das
Etikett mit dem Barcode klebt noch an der Kante. Mit einem Riegel kann das Tor
von außen und von innen verschlossen werden. Wer auch immer so viel Mühe auf
die Tarnung verwendet hat, dem ist wohl hinsichtlich des Schlosses die Energie
ausgegangen. Oder er ist sich seiner Täuschung so sicher, dass er einen simplen
Riegel für ausreichend hält.
„Schatz, komm
zurück! Ich habe hier was gefunden!“ Bernd, der sich beim Portier nach einem
ziellos herumirrenden Brandopfer erkundigt hat, stolpert beinahe über die
offene Kellertür. „Pass auf, um Himmels willen! Ich weiß nicht, was da unten
ist. Aber ich habe eine Ahnung, wer. Ich glaube, dass Max in seinem
Forscherdrang nicht nur die ebene Erd, sondern auch den unteren Stock erkunden
wollte. Hoffe ich zumindest. Dann kann er nämlich nicht weit sein. Ich denke
mal, dass es sich hier um ein altes Kellerabteil handelt. Und wie groß kann das
schon sein?“
Bernd summt. Leise, aber inbrünstig. Seit Anna und er
die Treppe hinunter
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