Totsein ist Talentsache (German Edition)
auch etwas ungrazil, so doch bestens
gelaunt durch die Gänge tänzelt und genüsslich jedes Kaffeehäferl leert, das er
in die eingemummten Hände bekommt. Aber bis auf ein paar verwunderte Blicke und
gerauntes Missfallen über derart ungebührliches Verhalten gibt es keine
beunruhigenden Reaktionen.
Wieder mal ein
Beweis dafür, dass man vor den Augen aller schon ziemlich viel Unfug anstellen
kann, ohne dass sich jemand etwas dabei denkt. Wenn dieses Kasperltheater,
aufgeführt von Laien, schon im Kleinen und vor ausgewähltem Publikum
funktioniert, hat eine Scharade großen Ausmaßes unter professioneller Regie
erst recht vor einem ganzen Volk Bestand. Vor allem, wenn dieses Volk, gemästet
mit Wohlstand und geblendet mit gezielter Propaganda, zu faul zum Denken und zu
träge zum Handeln geworden ist. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu
ändern ist.
„Vielleicht haben wir uns doch geirrt. Vielleicht
haben wir irgendetwas falsch verstanden“, murmelt Anna, als sie über die Wiese
zum Hauptgebäude zurückwandern. „Anders kann ich mir das nicht erklären. Wir
haben jeden Zentimeter abgesucht. Die können sich doch nicht unsichtbar ma …
AU!“ Anna reibt ihren Fuß und schiebt zum hundertsten Mal an diesem Tag das
Häubchen aus ihrem Gesicht. Während Max auf der Suche nach ein wenig Licht im
Dunkel in den Himmel blickt und sich mit weit ausgestreckten Armen um sich
selbst dreht, setzt Bernd Anna auf die Parkbank, gegen die sie eben gelaufen
ist.
„Ich hol uns
einen Kaffee von dem Automaten beim Eingang vorne. Und dann überlegen wir noch
mal in Ruhe. Nein, Max, du hast heute schon genug getrunken.“
Anna sieht ihrem Opa zu. Er hat sein Dasein als
Ringelspiel beendet und taumelt in Schlangenlinien über den gepflegten Rasen.
Schließlich lässt er sich laut lachend fallen und streift mit einer raschen
Bewegung die Mullbinden von Kopf und Händen. Mit einem seligen Grinsen krabbelt
Max auf allen Vieren über die Wiese und spielt mit einer dicken Hummel fangen.
„Er muss schon ewig lange nicht mehr draußen gewesen
sein!“, schießt es Anna durch den Kopf. Selbst seinen Garten in Litschau hat er
nur durch die verspiegelten Fensterscheiben des Wintergartens genießen können.
Oder bei Nacht. Beides nicht besonders befriedigend. Während der Fahrt nach
Wien ist Max unglaublich aufgewühlt von all den Eindrücken gewesen, die sich
ihm nach Jahrzehnten in der Isolation offenbart haben. Unzählige Fragen und
Ausrufe des Staunens sind ihm über die Lippen gekommen, bis er schließlich vor
Erschöpfung eingeschlafen ist.
Max hat erzählt, dass er und seine Mitbewohner in der Schattigen Pinie alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten genossen haben
und von netten Leuten umsorgt worden sind. Er hat alles gehabt. Außer die
Möglichkeit zu gehen. Das Leben, das er in seinem Exil in Litschau führt, ist
nicht wesentlich besser. Max ist noch immer eingesperrt. Und er kann sich diese
Tatsache nicht mal mehr mit diversen bewusstseinserweiternden Substanzen schön
saufen.
Sophies Besuche
haben Trost und Abwechslung in sein Leben gebracht. Annas Erscheinen muss ein
Schock gewesen sein. Und dieser Ausflug ist ein Traum, von dem noch nicht
feststeht, ob es ein guter oder ein böser ist. So kann das nicht weiter gehen.
Es muss sich etwas ändern. Wer weiß, wie viele Omas und Opas in den Heimen im
Drogenrausch von einer fast vergessenen Welt träumen oder wie Max irgendwo im
Verborgenen ihr Dasein fristen. Niemand soll sein Leben eingesperrt, versteckt
und in ständiger Gefahr verbringen müssen. Was immer dafür notwendig ist, Anna
will für Gerechtigkeit sorgen. Auch wenn das bedeutet, dass sie ein ganzes
System stürzen und tausende Greise auf kalten Entzug setzen muss. Max hat das
damals auch ganz gut überstanden. Dass er vorhin vor einem alten Lindenbaum mit
seiner Potenz angegeben hat, kann man als peinliche, aber harmlose Nachwirkung
gelten lassen.
„Tschuldigung, dass es so lange gedauert hat. Ich hab
noch Kleingeld wechseln … Anna, wo ist Max?“ Das ist eine seltsame Frage. Er
ist auf dem Fußweg und versucht, mit seinen nackten Zehen Kieselsteine
aufzuheben. Er steht da drüben. Er ist gerade noch da drüben gestanden. Jetzt
steht Bernd mit zwei dampfenden Bechern dort und starrt auf zwei blütenweiße
Stützstümpfe, die am Wegrand liegen.
Anna springt auf. Sie hat ihren Großvater nicht einen
Moment aus den Augen gelassen. Sie hat ihm bei seiner Erkundung der
Wirklichkeit zugesehen und
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