Totsein ist Talentsache (German Edition)
Feinsäuberlich sind darin Unterlagen, Dokumente
und Notizen geschlichtet. Die einzelnen Aktenordner sind datiert und umfassen
den Zeitraum von 1942 bis 1945. Aus dem Inhalt wird Bernd nur zum Teil schlau.
Die chemischen Formeln und gekritzelte Anmerkungen lassen darauf schließen,
dass es sich um wahnsinnig spannende Forschungen gehandelt haben muss. Aber ob
die Wissenschafter einen biologisch abbaubaren Kaffeebecher entwickeln oder
zweiköpfige Ziegen züchten wollten, kann selbst der studierte Mediziner nicht
erkennen. Die Randbemerkungen sind zwar durchaus leserlich, ergeben aber
schlicht und ergreifend keinen Sinn. „Und so was nennt sich Wissenschaft“,
meint Bernd. „Ich sag dir was: Der einzige Daseinszweck der Wissenschaft ist
es, kompliziert zu sein und sich in regelmäßigen Abständen selbst zu
widerlegen.“ Verbissen reißt er Kisten und Schubladen auf, in der Hoffnung,
irgendetwas Brauchbares zu finden.
Anna hat sich währenddessen den zweiten Aktenschrank
vorgenommen. Er ist nicht so ordentlich eingeräumt und enthält scheinbar
persönliche Gegenstände der Laboranten. Nach und nach zieht sie das gerahmte
Foto einer matronenhaft wirkenden Frau, drei bestickte Taschentücher sowie ein
in Papier eingewickeltes Päckchen, das nach vor langem verstorbenem Käse
riecht, heraus. Da weckt ein Gegenstand, nicht größer als eine DVD-Hülle, ihre
Aufmerksamkeit. Zärtlich lässt sie ihre Finger über die Oberfläche gleiten und
genießt den kurzen Moment der Erinnerung an beschaulichere Zeiten.
„Ich glaub, das ist so etwas wie ein Lageplan… Schau,
da ist der Eingang hinter dem Hauptgebäude, da ist der erste Kellerraum und wir
sind jetzt ungefähr … hier! Und da drüben muss mal so etwas wie ein Gefängnis
gewesen sein. Gruselig. Und genau da müssen wir … Anna, komm mit! Ich weiß, wo
wir hin müssen!“
Einer Eingebung und alten Gewohnheiten gehorchend
greift Anna nach dem in Leder gebundenen Buch, das mit einer rosa Schleife
umwickelt ist, und lässt es in den Falten der weiten Tracht verschwinden.
Schweigend folgt sie Bernd durch eine Pforte, die sie erst für einen
Wandschrank gehalten hat, ins Halbdunkel. Die massiven Gittertüren, die den
Gang säumen, versucht Anna zu ignorieren. Die Zellen sind leer und mehr
interessiert sie nicht.
Immer wieder tastet sie nach dem kleinen
Schatz, den sie unrechtmäßig, aber mit reinem Gewissen mitgehen hat lassen.
Irgendwann siegt die Neugier über die Vernunft. Mit einem bittenden Blick auf
Bernd, der seufzend stehen bleibt, löst Anna die Schleife und öffnet das Buch.
Meinem lieben Sohne Felix
Gib Deinem Herzen Freiheit und Deinen Gedanken Flügel!
In Liebe, Deine Mama
7. Juli 2012.
Intermezzo. Das zweite.
8. Mai 1945
Endlich finde ich Zeit zu schreiben. Die
vergangenen Tage sind zu aufregend und arbeitsreich gewesen, um auch nur einen
Augenblick zur Ruhe zu kommen. Selbst jetzt herrscht großer Trubel. Der Krieg
ist vorüber und die übrigen feiern diese Neuigkeit! Der Herr Professor ist
schon ganz betrunken und hat vorhin sogar getanzt. Aber genug davon.
Es gibt noch viel bessere Nachricht: Ich
bin nicht mehr der kleine dumme Lehrbub, der den Herren Wissenschaftlern
hinterher räumt. ICH, Felix Österreicher, hab´s geschafft! Ohne meine
Entdeckung würden sie jetzt weiter Kaninchen und Ratten quälen und doch nicht
weiter kommen. Und ich hab nicht nur das lang gesuchte Kräftigungsmittel
gefunden. Nein, mehr noch! Nach eingehenden Experimenten wissen wir nun, dass
mit der neu entdeckten Substanz die bedauernswerten Kreaturen nicht nur rasend
schnell gesund werden. Sie stehen gar munter auf, obwohl dem Tod bereits näher
als dem Leben! Es muss wohl Teufelswerk sein oder ein gnädiges Wunder Gottes.
Wer auch immer hier seine unirdische Hand im Spiel gehabt hat, er hat die meine
gelenkt. Denn unter uns: Nicht mein wissenschaftliches Talent hat zu der
Entdeckung geführt, sondern ein bloßer Zufall. Wie ich es immer tue, habe ich
auch vor einigen Tagen ein wenig experimentiert, um das Futter der
Versuchstiere zu verbessern und da ist es eben geschehen. Ich habe wohl eine
falsche Flasche genommen. Und doch ist der Griff goldrichtig gewesen. Nach alle
den Jahren vergeblicher Bemühungen ist durch eine glückliche Fügung eine
Entdeckung gelungen, die tausenden Menschen helfen könnte! Dafür werden wir
allerdings noch einiges an Geduld brauchen. Wir sind zwar auf einem guten Weg,
aber bisher wirkt das Mittel, das sie mir zu Ehren „Felix
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