Totsein ist Talentsache (German Edition)
gelesen“, fügt er hinzu und geht weiter. Anna folgt ihm
nachdenklich.
Langsam
verändert sich die Umgebung. Erst fällt es ihr nicht auf. Aber als ihre
Gedanken nur mehr am Rande mit dem wirren Gefasel einer Laborratte beschäftigt
sind, bemerkt sie es. Die beiden befinden sich vermutlich noch immer irgendwo
in den weitläufigen Gewölben unterhalb der Krankenanstalt Lainz. Aber sie sind
schon ziemlich lange unterwegs. Und nun offenbar in einen neueren Teil des
Kellers gelangt. Aus unbestimmter Richtung tönt deutlich das Surren einer
Klimaanlage. Die eiskalte Luft trägt einen Hauch von Lavendel mit sich. Wohl,
damit man wenigstens gut riecht, wenn man erfroren ist. Der Gang ist wesentlich
besser beleuchtet. Die Fliesen am Boden wirken moderner - soweit man das von
einem braun-beigefarbenen Muster aus den Siebzigern behaupten kann. Und
irgendjemand hat sich sogar die Mühe gemacht, Fotos und Wandtafeln aufzuhängen.
Schweigend gehen Anna und Bernd von einem Bild zum
nächsten. Schweigend und staunend. Und einigermaßen entsetzt. Was sich ihnen
hier offenbart, überschreitet eindeutig die Grenzen des guten Geschmacks. Wären
da nur die Bildtafeln, könnte man ja noch von etwas zu erschöpfenden
Anleitungen zum Sezieren oder einem sehr fantasievollen Künstler mit leicht
sadistischen Zügen ausgehen. Die zahlreichen Skizzen zeigen den menschlichen
Körper und seine Anatomie. Detailliert sind Hautstruktur, Muskelgewebe, Organe
und Knochengerüst dargestellt. Ebenso wie diverse Methoden, um den gewünschten
Teil auf schnellstem Weg vom Körper zu trennen. Und das auf eine sogar für Tote
relativ inhumane Weise.
Die Mehrzahl der Entwürfe beschäftigt sich mit dem
Oberkörper und da vor allem mit Wirbelsäule und Kopf des Menschen. Auf sehr
anschauliche Art ist dargestellt, wie das menschliche Gehirn funktioniert und
warum es notwendig ist, manche Teile unberührt zu lassen, während andere den
Status des weit überschätzten Blinddarms haben. Nach Annas Dafürhalten sind
schon diese Zeichnungen zu abscheulich, um einem medizinischen, künstlerischen
oder moralischen Zweck zu dienen.
Aber da sind noch die Fotos. Zu alt, um am Computer
nachbearbeitet worden zu sein. Zu realistisch, um in einer dekorierten Scheune
als dummer Jungenstreich entstanden zu sein. Und zu drastisch, um als
Gleichnisse für die Abgründe der menschlichen Seele durchzugehen.
Zusammenfassend kann man die Sammlung als Galerie des
Grauens bezeichnen. Entsetzlich entstellte Körper. Menschen, denen die Haut vom
und Teile der inneren Organe aus dem Leib hängen. Oder deren Gliedmaßen
mehrfach gebrochen sind. Eines haben sie alle gemeinsam: Obwohl eigentlich
unvorstellbar, wenn nicht gar unmöglich - sie alle scheinen auf bizarre Weise
äußerst lebendig. Und wirken nicht mal unglücklich über ihren Zustand.
Vielleicht wissen sie gar nicht, wie schräg sie rüberkommen. Wie diese etwas
wunderlichen Leutchen, die man hin und wieder in dünner besiedelten Teilen des
Landes antrifft. Oder auf den Festen, die Anna aus beruflichen Gründen öfters
besucht hat.
Bernd mahnt zum
Aufbruch. Trotz des erhöhten Spannungsfaktors durch die kontroverse
Raumgestaltung sind immerhin noch drei Vermisste zu finden. Anna kann sich nur
schwer von den abartigen Bildern losreißen. Es ist wie bei einem Autounfall –
man kann nicht wegsehen. Ihr letzter Blick gilt einem Foto, auf dem zwei dieser
verkrüppelten Kreaturen auf groteske Art eine panisch schreiende Frau umarmen.
Einer von ihnen sieht dem ersten Bundespräsidenten der Nachkriegszeit
verblüffend ähnlich.
Bernd hat keine Ahnung mehr, wo sie sich befinden.
Der alte Plan zeigt zahlreiche Gänge und Kammern an. Bei näherer Betrachtung
führen die jedoch anscheinend weder irgendwohin, noch dienen sie einem
speziellen Zweck. Vielmehr scheinen sie ein in sich geschlossenes System zu
bilden. So, als würde Gang A unter Umgehung von Raum B in Flur C führen, über
den man – optional durch Zimmer D oder Kammer E – nach einer gefinkelten
Rechts-Links-Kombination wieder in Gang A landet. Aus. Andere Wege bleiben dem
Zufall oder einem Vorschlaghammer überlassen. Zumindest, wenn man nach dem Grundriss
geht. Aber die beiden sind zumindest schon sehr weit gekommen. Nämlich ganz
woanders hin.
Es gibt schlimmere Dinge, als sich zu verlaufen.
Frühzeitigen Samenerguss zum Beispiel. Oder dahinter kommen, dass die
Lieblingstante ein bipolar veranlagter Transvestit ist. Oder Beulenpest. Mit
einem Schulterzucken
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