Totsein ist Talentsache (German Edition)
faltet Bernd den Plan zusammen und lässt ihn in seiner
Manteltasche verschwinden. Er beschließt, einfach mal dem Licht zu folgen. Im
schlimmsten Fall warten ein paar verblichene Verwandte und der liebe Gott am
Ende des Tunnels.
Zur Bernds Erleichterung endet der Gang nicht in
einer kindlichen Version des Lebens nach dem Tod, sondern vor einer für
unterirdische Verhältnisse bemerkenswert kitschig verzierten Tür. Da ist wohl
jemand ein Freund naiver Bauernmalerei gewesen.
Während Bernd
sich in Betrachtungen über den Kunstverstand früherer Generationen ergeht,
verliert Anna die Geduld. Sie sind eindeutig schon zu lange hier unten. Ihr ist
kalt. Sie ist müde. Und außerdem muss sie wirklich dringend aufs Klo. Mit einem
ungeduldigen Schnauben stößt sie die Tür auf.
„Ich muss Pipi“, flüstert Anna Bernd zu, als sie das
Zimmer betreten. „Und außerdem … Wow!“ Für einen Moment sind alle
vordringlichen körperlichen Bedürfnisse vergessen. Dafür, dass sie sich in
einem Keller befinden, ist der Raum sehr hoch. Und dafür, dass er
verhältnismäßig sauber ist, riecht es hier ganz unverschämt nach irgendetwas
Unaussprechlichem. Der Gestank kann nicht nur von dem angebissenen Wurstbrot
herrühren, das auf dem Regal neben der Tür vor sich hinschimmelt. Aber es
zeigt, dass dieses Zimmer nach wie vor genutzt wird. Zuletzt vor Kurzem erst,
wenn man den noch nicht allzu weit fortgeschrittenen Verfall des Brotes
berücksichtigt.
Wie in einem Hörsaal gibt es mehrere
aufsteigende Sitzreihen, die rund um einen großen Tisch angeordnet sind. Auch
hier sind offensichtlich menschliche Körper obduziert worden. Die großen Gläser
mit eingelegten Organen, die einige Gestelle füllen, sprechen in dieser
Hinsicht eine sehr deutliche Sprache. Annas Blick fällt auf Tafel, die hinter
dem Tisch an der Wand montiert ist. Mit einiger Mühe kann sie die Worte
entziffern, die nur nachlässig gelöscht worden sind:
Objekt Z: weiblich, 39 Jahre alt, potentiell aggressiv;
Versuch 1: Elektro-Stimulation des Cerebellum – neg.
Versuch 2: vorsätzliche Fraktur der unteren Extremitäten – o. B.
Versuch 3: Exodus durch irreversible
Verletzung des Pars cervicalis – pos.
Anna versteht zwar kaum ein Wort, begreift jedoch
instinktiv, dass die angeführten Versuche nicht der Heilung von Cellulite
dienen sollen. Angewidert wendet sie sich dem Raum zu. An den Wänden hängen
verschiedene Werkzeuge, die man üblicherweise in Tischlereien oder einem gut
sortierten Foltermuseum findet. Und noch mehr anatomische Skizzen und
Fotografien. Diesmal sieht Anna nicht so genau hin. Wenn man die Blase bis zum
Anschlag voll hat, sind Bilder von teilweise oder vollständig Toten
kontraproduktiv.
„Lust auf Kino, Prinzessin?“ Bernd ist ganz nach oben
auf den letzten Rang gestiegen und zu einem Filmprojektor gegangen, der zwischen
zwei Sitzreihen aufgebaut ist. Es dauert eine Weile, bis er die beiden Schalter
ihrer Bestimmung zugeordnet hat. Anna nutzt die Zeit und zieht mit einem langen
Stab eine vergilbte Leinwand herunter, die über der Tafel montiert ist.
Nachdem sie es
sich auf einem der Klappstühle in der vorletzten Reihe bequem gemacht hat,
wirft Bernd den Projektor an. Ein merkwürdiger Geruch breitet sich aus, als das
Gerät die ersten flackernden Bilder an die Wand wirft.
Eine sorgfältig beschriftete Schiefertafel klärt den
Zuseher darüber auf, dass man den 17. Juni 1951 schreibt. Männer in weißen
Mänteln huschen hin und her und blinzeln zwischendurch verstohlen in die
Kamera. Nach einiger Zeit tritt ein junger, gelehrt aussehender Mann vor die
Linse und deutet dem geneigten Zuseher, ihm zu folgen. Eine Nahaufnahme des
Namensschildes verrät, dass es sich um Georg Romero handelt, der offensichtlich
überlebt und rasche Karriere als Professor und Doktor gemacht hat.
In einer für damalige Verhältnisse vermutlich
rasanten Fahrt folgt die Kamera dem Mann durch Gänge und Zimmerfluchten, die
große Ähnlichkeit mit jenen haben, die Anna und Bernd vor Kurzem durchschritten
haben. Mit dem Unterschied, dass sie im Film etwas besser beleuchtet sind. Und
belebter. Also insgesamt nicht so aufs Gemüt drückend.
Vor einer Pforte deutet Romero, dass ab nun höchste
Vorsicht und ungebrochene Aufmerksamkeit angebracht sind. Dann stößt er die Tür
auf und tritt zur Seite. Die Hand des Kameramanns zittert merklich, als die
Szenerie ihre volle Wirkung entfaltet. Der Drehort ist eindeutig das Labor, in
dem Felix Österreicher vor
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