Totsein ist Talentsache (German Edition)
für die Kunst haben. Aber es geht wohl auch ohne“, meint
Bernd. Als er Annas entgeistertes Gesicht sieht, wird seine Miene
augenblicklich ernst. Für ein paar Augenblicke hat er vergessen, dass das
Gezeigte nicht die Studioproduktion eines ambitionierten Filmemachers ist,
sondern blutige Realität.
Mit einem Räuspern wendet sich Bernd wieder der Leinwand zu, wo die
wandelnde Leiche offenbar ihr Interesse an dem jungen Labortechniker wieder
entdeckt hat. So sehr, dass sie auf ihn losgeht und sich wie besessen in seinen
Hals verbeißt. Während Georg Romero dem Kameramann deutet, weiter
draufzuhalten, eilen ein Assistent und der Wächter dem Burschen zu Hilfe. Als
sie die Frau unter großer Anstrengung von ihm runterzerren, bleiben große
Stücke Haut und Fleisch zwischen ihren Zähnen hängen. Mit stumpfem Blick sieht
sie den Wachmann an, der mehrere Schüsse auf sie abgibt. Dann starrt sie auf
die Löcher, die die Kugeln in ihrem Körper hinterlassen haben, und schluckt
langsam ihre Beute runter. Während im Hintergrund hektisch die Erstversorgung
des Schwerverletzten stattfindet, hebt der graue Riese seinen Holzprügel und
lässt ihn auf einen Wink Romeros hin auf den Scheitel der Frau krachen.
„Jetzt muss ich nimma aufs Klo“, flüstert Anna, als
sie durch ihre Finger hindurch beobachtet, wie Hirnmasse und andere
Flüssigkeiten aus dem aufgeplatzten Schädel treten. Zufrieden deutet Georg
Romero auf die anwesenden Laboranten und applaudiert ihnen höflich. Diese
verneigen sich kurz und kümmern sich dann wieder um den bedauernswerten
Assistenten, der im Dienste der Wissenschaft lebensgefährlich verletzt worden
ist.
Statt jedoch
seine aufgerissene Kehle zu verbinden, legen sie ihm eine eiserne Schnalle um
den Hals und verschrauben sie sorgfältig. Der Busche lässt es in aller Ruhe
über sich ergehen, schlurft auf wackeligen Beinen zum Labortisch und legt sich
drauf. Während ein Techniker einige Stromkabel an das Halsband anschließt,
sieht der Junge beinahe stolz zum Professor und atmet tief ein. Romero
tätschelt ihm mit einem dankbaren Blick die Schulter, befiehlt die Injektionen
und hebt erneut das Messer.
Hier endet der Film. Besser gesagt, der Streifen
reißt mit einem scharfen Knacken. Anna fährt erschrocken hoch und wischt sich
Tränen aus dem Gesicht. Rasch springt Bernd auf und dreht den laut vor sich
hinratternden Projektor ab. Dann nimmt er Anna in den Arm und küsst sie. Einige
Minuten sitzen die beiden so da und gehen ihren Gedanken nach. Die von Bernd
befassen sich hauptsächlich mit verschiedenen Theorien über das limbische
System des Menschen. Die von Anna ausschließlich mit der Frage, wie sich der
Mensch reinen Gewissens als Krone der Schöpfung bezeichnen kann.
„Ich habe da
eine ausgesprochen grauenhafte Hypothese“, sagt Bernd. „So irre, dass sie fast
schon wieder wahr sein könnte. Soll ich sie dir erklären?“ Grauenhaft klingt
nicht gut. Anna ist mehr der Typ intellektuell-humorig. Aber wenn es der Sache
dient, sollte sie es sich wohl anhören. „Ja. Aber vorher muss ich diesen
schrecklichen Fetzen loswerden.“ Sie zieht die angepinkelte Nonnentracht aus
und schlüpft in ihr Kleidchen, das in einer der Taschen auf seinen Einsatz
gewartet hat.
Mehr der Form halber und um Anna zu beruhigen, zieht
Bernd den Plan aus seiner Hose und studiert ihn eingehend. Wenn nur etwas
Wahrheit in diesem Grundriss steckt, müssen sie bloß ein Stückchen zurückgehen,
um über einen Nebengang zu einer Treppe zu gelangen, deren Endpunkt mit einem
Kreuz gekennzeichnet ist. Anna wirft Bernd einen zweifelnden Blick zu und
meint: „Abgesehen von der offensichtlichen Ungenauigkeit der Karte … Wieso
glaubst du ernsthaft, dass im richtigen Leben jemals ein X einen bedeutenden
Punkt markiert?“
Andererseits: warum eigentlich nicht? Nach einem
Spaziergang durch den unterirdischen Irrgarten menschlicher Abgründe hat so ein
Ausflug ins Ungewisse wahrscheinlich sogar etwas herrlich Erfrischendes.
Außerdem wird es Zeit, die Vermissten zu finden. Höchste Zeit. In dieser Anlage
sind entsetzliche Versuche an Menschen durchgeführt worden. Die Möglichkeit,
dass das noch heute so gehandhabt wird, sollten sie nach den aktuellen
Erkenntnissen zumindest nicht außer Acht lassen. Vor seinem geistigen Auge
sieht Bernd schon, wie Katja von einem blutverschmierten Max zerrissen und
aufgefressen wird, während Jo mit einem eisernen Halsband daneben steht und
sich selbst Stromstöße versetzt. Mit diesem
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