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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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für den Jockel war sie ein Engel, für den Jockel war die Scarlett ein Wunder, das er immer nur angestaunt hat. Der hat sie Tag und Nacht umschwärmt, auch wenn er gar nicht verstanden hat, was er da tut. Sie haben zusammen Kuchen gegessen, ferngesehen, gespielt, gemalt, sogar gesungen, wenn er sich mal getraut hat. Ich glaub, dieses Mädchen war der einzige Mensch, der den Jockel dazu gebracht hat zu singen, wie früher. Sonst hat er sich nicht mehr getraut. Oder er hat vergessen, dass er singen konnt. Aber mit dem Mädchen …«
    Auch Eberhard Krumbholz hatte – ob mit Absicht oder aus Oberflächlichkeit, das war Fischer nicht klar geworden – immer wieder von dem »Mädchen« gesprochen und es vermieden, ihren Namen zu nennen. Welche Absicht sollte dahinterstecken? Half ein Mädchen ohne Namen ihnen bei der Bewältigung der Schuldgefühle? Verachteten sie Scarlett, weil diese ihren Sohn mit ihrer ganzen Art und »Selbstverliebtheit« möglicherweise dazu gebracht hatte, außer Kontrolle zu geraten und sie zu töten?
    »Sie waren enge Freunde, Scarlett und Ihr Jockel«, sagte Fischer. Obwohl es in der Küche angenehm warm war, hatte er kalte Hände.
    »Der Jockel …« Erschöpft, oder wie ergeben, lehnte sie den Kopf an die Wand. »Manchmal war es auch gut, dass er nichts mitgekriegt hat, manchmal war seine Krankheit richtig ein Segen. Eine Erleichterung für mich.«
    »Sie waren erleichtert, weil Ihr Sohn nicht mitbekam, wenn Sie und Ihr Mann Streit hatten.«
    »Sie kennen sich aus«, sagte sie mit müder Stimme. »Oder steht darüber was in den Akten? Wir haben uns auch früher schon gestritten, der Hardy und ich, eigentlich von Anfang an. Ich bin eine aufbrausende Frau gewesen, auch selbstbewusst, ich hab mir wenig sagen und noch weniger anschaffen lassen. Anschaffen, schönes deutsches Wort. Das war nicht leicht für den Hardy. Nach Jockels Erkrankung hat er sich verändert, mein Mann. Er wurde stur und böse, er ließ sich gehen, er hat mir die Schuld an allem gegeben, obwohl er das nie laut gesagt hat. Dass sein Sohn plötzlich geistig behindert ist, das hat er nicht verwunden, bis heut nicht. Stellen Sie sich vor, er ist sogar aus der Kirche ausgetreten. Einmal, als er mal wieder stockbetrunken war, hat er gesagt, dass Gott ihn bestraft, weil er unsere Esther zu Tode gefahren hat. So hat er geredet. Gott und ich haben ihn bestraft, das war seine Sicht der Dinge. Und dann fing er an, Frauen anzumachen, mit einer hatte er tatsächlich ein Verhältnis. Sie kommt heut noch fast jeden Abend in die Kneipe, eine Trinkerin. Selbstverliebt. Hält sich für attraktiv. Sie geht anschaffen. Ich weiß das. Jeder weiß das. Sie gibt Inserate auf, sie geniert sich nicht für ihr Alter, sie ist Anfang sechzig, kaum jünger als ich. Als mein Mann sie kennenlernte, war sie Anfang vierzig und auch schon versoffen und verhurt.«
    Ihre Stimme wurde immer schwächer. Den Kopf an dieWand gelehnt, klopfte sie mit den gefalteten Händen auf den Tisch. »Davon hat der Jockel nie was mitgekriegt, was für ein Glück. Wenn er uns zufällig erwischt hat, wenn wir uns angeschrien haben, hat er einfach mitgeschrien, so laut er konnte. Und dann haben wir zu dritt so lange rumgeschrien, bis Jockel anfing zu lachen. Manchmal hab ich sogar mitlachen müssen. Wir haben dann nie darüber gesprochen, wieso wir uns überhaupt gestritten haben, sein Vater und ich. Jetzt schreien wir uns schon lang nicht mehr an. Wenn mein Mann vor mir sterben sollt, geb ich die Kneipe sofort auf und geh zurück nach Griechenland zu meiner Schwester. Und den Jockel nehm ich mit. Und die Esther lass ich auch umbetten.«
    Sie verstummte. Ihre Hände lagen still auf dem Tisch. Das leise Rauschen der Heizung und das kaum hörbare Köcheln der Suppe in den beiden Töpfen waren minutenlang die einzigen Geräusche.
    Als Fischer sich von der Wand abstützte und einen Schritt machte, hob Luisa Krumbholz ruckartig den Kopf. »Ich würde gern das Zimmer Ihres Sohnes sehen«, sagte er.
    Mit einem Seufzer, der ihn an die Schwerfälligkeit ihres Mannes erinnerte, erhob sie sich, die Hände immer noch vor dem Bauch gefaltet. Sie drehte den Strom am Herd ab, zog die Töpfe von den heißen Platten und nickte, wie zu Beginn von Fischers Besuch, zur Tür hin. Fischer ließ sie vorausgehen.
    Nachdem sie eine der zwei geschlossenen Türen im Flur geöffnet hatte, lehnte sie sich an den Türrahmen und wartete, bis Fischer einen Blick hineinwarf.
    An einer Wand stapelten sich

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