Totsein verjaehrt nicht
Knöpfe hatte sie bis zum Hals geschlossen. Ihre Stimme klang ein wenig mädchenhaft. Doch wenn sie sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel strich und ihre Wangen schmal wurden, wirkten ihre Handbewegungen wie Gesten des Alters und der Erschöpfung.
Natürlich war Mimi ihr Spitzname, in Wahrheit hieß sie Miriam Oberhaus. Früher, erklärte sie, habe sie zum Team des Gärtnerplatztheaters gehört und in verschiedenen Operetten mitgewirkt. Das sei alles lange her.
In dieser Nacht wollte Fischer, dass es kein Früher gab und nichts mehr lange her, sondern alles jetzt war und niemand sich auf eine abgeschriebene Zeit herausreden konnte.
»Erinnerst du dich an den Tag, an dem die kleine Scarlett verschwunden ist?«
Zunächst stellte sie sich lächelnd ahnungslos, umfasste sein Handgelenk, wenn er ihr Feuer gab, tippte mit dem Knie gegen sein Bein und hörte nicht auf, ihn anzusehen. Er bestellte ihr einen neuen Wein, den Krumbholz, wie vorhin, aus einer bauchigen Zweiliterflasche in dasselbe Glas schüttete, ohne es vorher gespült zu haben. Unaufgefordert brachte er Fischer ein frisches Glas Mineralwasser, und weil MimisBlick dem Kommissar keine andere Wahl ließ, zeigte er auf seinen Deckel, und der Wirt machte seine Striche.
Mimi hob ihr Glas. Sie stießen an. Als sie noch einmal behauptete, sie könne sich beim besten Willen nicht mehr an einen Tag vor sechs Jahren erinnern, beugte Fischer sich über den Tisch und küsste sie auf die Wange. Sekundenlang vergaß sie zu rauchen.
»Hardy Krumbholz war an dem Tag bei dir zu Besuch«, sagte er. »Er kam mittags zu dir in die Michaeliburgstraße, wie schon oft.«
Sie leckte sich die Lippen, spitzte den Mund und drehte mit einem Ruck den Kopf.
Willi kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er starrte Fischer an, dann nickte er, gab ein Knurren von sich und trank weiter.
»Der Polizei hast du nichts davon erzählt«, sagte Fischer. »Du verrätst deine Freier nicht.«
»Hardy war kein Freier.« Sie drückte die Zigarette aus und strich sich über die Mundwinkel. »Er war mein Freund. Er hat nie was bezahlt, höchstens, wenn er es unbedingt wollte. Ich hab nichts verlangt, ich schlaf auch mit Männern ohne Geld. Wenn ich sie mag. Da gabs einige hier im Viertel. Ist das verboten, sich lieben? Alles sauber und ordentlich. Du hast was Verschlagenes, Polonius, genau wie deine Kollegen.«
»Ich habe nichts Verschlagenes. Hör auf, mich zu beleidigen. Ich will wissen, ob Hardy an dem Tag bei dir war. Das ist sehr wichtig.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Während sie trank, sagte er kein Wort mehr. Mimi hörte auf, an seinem Bein zu reiben. Sie gab sich selbst Feuer. Ab und zu warf Willi ihnen einen Blick zu. Suzi Quatro schrie aus den Siebzigerjahren herüber. Unter den Messingfassungen der Thekenlampen waberte Zigarettenrauch.
Nachdem Mimi zwei weitere Zigaretten geraucht, am Glas genippt und Fischer mit Blicken abgestraft hatte, seufzte sie, tiefer als vorher.
»Das war ein Scheißtag«, sagte sie. Ihre Stimme klang nicht mehr mädchenhaft, eher unbestimmt und fremd. »Um halb acht haben die Bullen bei mir geklingelt. Kontrolle. Irgendein Kerl hatte blöd gequatscht. Der wollt mich hinhängen. Du kennst meine Wohnung nicht, da kannst du vom Teppich essen, so sauber ist die. Das ist kein Puff. Ich krieg Hartzvier, und wenn du jetzt meinst, du musst mich fertigmachen, dann tus. Ist mir egal. Im Juni werd ich dreiundsechzig, schau mich an. Vierzehn Jahre Garderobiere am Gärtnerplatztheater. Dann mussten sie Personal einsparen. Verständlich. Ich kann gut mit Männern, aber inzwischen reichts mir. Zeig mich an wegen illegaler Prostitution. Glaubst du, das ändert was an meinem Leben?« Sie schaute ihm ins Gesicht. »Wieso hast du das gemacht? Hast du das Recht, mich einfach zu küssen? Glaubst du, du kannst dir alles rausnehmen, weil du ein Bulle bist?«
Fischer sagte: »Wieso war das ein Scheißtag, der 8. April vor sechs Jahren?«
»Geht dich nichts an.«
Über das, was Fischer jetzt sagte, hatte er keine Sekunde nachgedacht. »Ich gebe dir zweihundert Euro für Sex oder für eine ehrliche Auskunft.« Im selben Moment wollte er sagen, dass er nur einen Witz gemacht habe. Aber er sagte es nicht. Er saß da und sah sie an, als meinte er es ernst.
Eines von Mimis bewährten Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. »Das ist verboten, was du da machst«, sagte sie. »Das ist Anstiftung zur Prostitution, das darfst du gar nicht in deiner Position.«
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