Touched
rechnete. Tatsächlich aber war es unmöglich. Ihr Unterbewusstsein hatte sich in ein Knäuel aus schwarzem Nichts verwandelt, das ich nicht durchdringen konnte. Die Verletzung war unsichtbar und was ich nicht sehen konnte, konnte ich auch nicht heilen. Das hatte es zuvor noch nie gegeben. In Panik richtete ich wahllos und begleitet von blauen Funken eine Energiewelle auf ihren Kopf. Erschöpft hielt ich mich dann mit meiner freien Hand am Bettgestell fest, um nicht umzufallen.
Ihre Augenlider flatterten.
Bestürzt trat ich von dem Bett zurück, aber sie packte mich an der Hand.
»Remy.« Sie schloss die Augen für einen Augenblick und schluckte. Ich versuchte, meine Hand freizubekommen, um eine Krankenschwester zu holen, aber sie hielt mich umso fester.
»Mom?«
Wieder scannte ich sie, denn ich wollte sehen, ob mein letzter verzweifelter Versuch ein Wunder vollbracht hatte. Doch ihr Kopf erwies sich als undurchdringlich.
Sie richtete ihre braunen Augen auf mich und fing an zu weinen. »Er wird hinter dir her sein.«
Sie klang verängstigt. Dass Dean mir an den Kragen wollte, überraschte mich nicht. Zusätzlich zu einem übergroßen Ego hatte er eine fiese Ader, die auf Rache sann, weil ich ihn verletzt hatte. Ich umfasste ihre Hand nun mit beiden Händen und flüsterte: »Das ist okay, Mom. Jetzt konzentrieren wir uns mal darauf, dich hier rauszukriegen. Danach sehen wir weiter.«
Daraufhin weinte sie noch mehr. Wieder versuchte ich, Hilfe zu holen, aber ihr Griff war erstaunlich fest. »Er weiß Bescheid. Alles meine Schuld. Das Tagebuch.«
»Mom, welches Tagebuch?«
In Erinnerungen verloren, schien sie sich in weiter Ferne zu befinden, als sie fortfuhr: »Steht die Wahrheit. Über dich.«
Ihre kryptische Antwort machte keinen Sinn. Wollte sie zugeben, dass sie über mich Bescheid wusste? »Welche Wahrheit?«
Sie runzelte die Stirn. »Gefahr. Finde es, Baby.«
»Wovon redest du?«
Keine Antwort. Ich fragte mich, ob die Schmerzen ihren Verstand vernebelt hatten. Dass sie ein Tagebuch führte, hörte ich jedenfalls zum ersten Mal. Ihre Worte ergaben keinen Sinn.
Sie brauchte einen Arzt. Ich entwand ihr meine Hand, und ihr fielen die Augen zu. Plötzlich gaben die Maschinen im Raum einen schrillen Ton von sich. Annas Herz kam ins Stolpern und hörte auf zu schlagen.
»Mom?« Voller Panik beugte ich mich über sie und lauschte, ob sie atmete.
Nichts.
Krankenschwestern und Ärzte eilten herbei. Ich wurdeweggeschoben, damit sie sich an die Arbeit machen konnten. Sie rissen die Laken weg, und Elektroden wurden ihr auf den Brustkorb gedrückt, wie ich es in Kinofilmen gesehen hatte.
»Mom! Bitte, lassen Sie mich …«
Wenn ich sie nur berühren könnte …
Ein Arzt mit braunem Haar, der, der uns im Korridor über die Verletzungen meiner Mutter aufgeklärt hatte, funkelte jemanden hinter mir an. »Raus hier«, schrie er.
Ich wurde aus dem Raum geschoben und merkte, dass mich jemand an den Schultern festhielt, damit ich nicht wieder hineinrannte. Ben zog mich an seine Brust und schlang einen Arm um mich. Gemeinsam beobachteten wir entsetzt, wie der Körper meiner Mutter zuckte, als ihr Brustkorb den Stromstößen ausgesetzt wurde. Dann schloss jemand die Tür und wir sahen nichts mehr.
Es dauerte nicht lange, bis der Arzt, der geschrien hatte, wieder herauskam. Er wirkte niedergeschlagen, und das sagte mir, was ich schon wusste. Sie war tot. Meine Mutter war tot. Sie war schwach gewesen, und sie hatte tausendmal mein Herz gebrochen. Ich hätte sie nicht lieben sollen.
Trauer, Zorn und Schuldgefühle übermannten mich und ich drohte, unter deren Last zusammenzubrechen. Deshalb machte ich mit meinem Herzen dasselbe, was ich mit den Nerven meiner verbrannten Hand getan hatte: Ich stumpfte es gegen die Schmerzen ab. Ich konnte die Flut an obskuren Einzelheiten, die sich in meine Erinnerungen drückten, nicht stoppen, während wir auf unseren Plastikstühlen saßen und ich den Arzt dabei beobachtete, wie er auf mich und Ben zukam.
»Mr O’Malley? Viel haben wir nicht tun können. Die Verletzungwar zu gravierend. Wir wussten schon, dass sie das Bewusstsein möglicherweise nicht wiedererlangen würde.«
Gar nichts wussten sie. Sie hatten keine Ahnung, dass sie aufgewacht war und mit mir gesprochen hatte, und ich konnte es ihnen nicht sagen, weil sie dann dumme Fragen gestellt hätten. Ich spürte den Blick des Arztes auf mir und fragte mich, ob er gemerkt hatte, dass Annas Prellungen verschwunden
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