Touched
Schmerzmittel einzunehmen, die so müde machten, dass ich im Wagen einschlief und die Augen erst wieder mühsam öffnete, als er mich von der Rückbank heraushob. Lucys Flüstern vermischte sich in der eisigen Dunkelheit mit seinen heiseren Beruhigungen. Wie ein Kind trug er mich die Treppe hoch und legte mich in das vertraute, nach Lavendel duftende Bett. Lippen streiften meine Stirn, kühle Finger strichen mir das Haar aus dem Gesicht und dann lieferte ich mich dem Nichts aus.
Als ich im Morgenlicht die Augen wieder aufschlug, erlebte ich ein vages Gefühl des Déjà-vu, als ich Lucy entdeckte, die im Schneidersitz auf meinem Bett saß und mich betrachtete. Ihre rotgeränderten Augen wanderten über mein Gesicht und blieben an meiner gespaltenen Lippe hängen.
»Meinst du, du hast genügend Make-up, um meine Lippe für die Schule hinzukriegen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen,dass die Kosmetikabteilung im Macy’s für dieses Wunder genügend Make-up parat hätte!«, meinte sie und lachte unsicher.
Ich lachte auch und verzog dann das Gesicht, als mein ganzer Körper rebellierte. »Oh, Scheiße!«
Darauf kicherten wir nur noch mehr, bis ich erschauderte und meinen steifen Arm bewegte, der in der Schlinge ruhig gestellt wurde. »Oh Mann, das tut vielleicht weh! Was ist daran eigentlich so witzig?«
Sie wurde wieder ernst. »Ich bin so froh, dass du halbwegs okay bist. Dad hat mir erzählt, was passiert ist. Magst du reden?«
Ich schüttelte den Kopf, versuchte aber, meine Schroffheit zu mildern. »Gerade nicht. Vielleicht irgendwann später mal, okay?« Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich anfangen sollte, weil ich Lucy nicht noch mehr belügen wollte.
Mit ernster Miene sah sie mich prüfend an. »Alles okay, Sis?«
Dabei spielte sie eindeutig nicht auf meine Verletzungen an. Nein, nichts war okay. Ich fühlte mich schuldig, wütend und traurig. Die Erlösung, die Tränen boten, war undenkbar, dabei hätte ich mich so danach gesehnt, aus Kummer und Verzweiflung einfach nur loszuheulen. Doch diesen Hahn hatte ich mir mit 14 zugedreht, und nun war er durch Nichtgebrauch völlig verrostet. Allerdings machte meine Schwester sich Sorgen um mich, also log ich.
»Ja, Luce. Jetzt, wo ich zu Hause bin, schon.« Ich schlug einen lockeren Ton an. »Bis darauf, dass ich dringend mal ins Bad verschwinden muss.«
Als ich aufstand, lehnte sich jeder Muskel in meinem Körper dagegen auf. Wie es aussah, kam ich ohne Unterstützung nirgendwohin. Ich verzog das Gesicht. »Lucy, ruf mal besser Ben.«
Sie rannte zur Tür und brüllte: »Dad!«
Er kam angerannt und ich bedachte Lucy mit einem finsteren Blick. »So geht das ja mal gar nicht. Du hast ihm Angst eingejagt!«
«Du hast doch gesagt, es sei dringend«, erwiderte sie mit einem sorglosen Achselzucken.
Später brachte mich Ben ins Bett zurück, legte ein Kissen unter meinen verletzten Arm und ich bemerkte verärgert, wie sehr mich dieser kleine Gang angestrengt hatte. Ben befahl mir, mich auszuruhen. Ich bat Lucy, mir meinen iPod aus meinem Matchsack zu holen, und dann ließen mich die beiden allein.
Ich dachte an meine Mutter. Ich hatte gewusst, dass Dean öfter über sie herfallen würde, wenn ich nicht da war, und die Möglichkeit, dass er sie mit einer seiner Attacken umbrachte, hatte immer bestanden. Ich war so wütend gewesen, dass sie ihn gedeckt hatte, dass ich nur noch wegwollte. Als ich mich daran erinnerte, wie sie in dem Krankenhausbett gelegen hatte, wurde mir übel.
Um zu vergessen, setzte ich mir die Ohrstöpsel ein und schaltete den iPod an. Ich war gespannt, was meine Mutter sich angehört hatte. Viel war auf dem Player nicht drauf, nur eine Playlist, die ein paar titellose Tracks enthielt, und ich wählte willkürlich einen aus, wobei ich erwartete, einen der Lieblings-Countrysongs meiner Mutter zu hören – einen Song über einen Mann, der seiner Frau Unrecht getan hatte.
Als ich stattdessen die Stimme meiner Mutter hörte, riss ich vor Schreck den Mund auf.
»Was sagte ich gerade? Ach ja. Meine Mutter, deine Großmutter. Sie war eine Heilerin wie d …« Ihre kehlige Stimme – die sie ihrem massiven Zigarettenkonsum verdankte – strömte über mich hinweg und ich verpasste den Rest ihrer Worte. Ichhörte nur eines heraus: Meine Mutter hatte mich in beiläufigem Ton als Heilerin bezeichnet. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, wozu ich in der Lage war. Zu ihren Lebzeiten hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als ihre
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