Touched
Risiko freiwillig auf sich, um mit dir zusammen zu sein. Jetzt, da ich eine leise Ahnung davon habe, was er durchmacht, ist mir klar, dass er ein Idiot ist.«
Dass es so schlimm war, hatte ich nicht gedacht. Vielleicht fühlte er sich ja lebendiger, aber falls an der Strahlentheorie etwas dran war, verspürte er auch große Schmerzen. Ein Leben ohne Sinneswahrnehmungen musste die Beschützer in den Wahnsinn getrieben haben, wenn sie bereit waren, Heilerinnen umzubringen, um wieder etwas zu empfinden.
Eine Wolke aus mir unbekannter Energie trieb auf mich zu, suchte einen Weg um meine Mauern. Sie war nicht so beherrscht und raffiniert wie Ashers Energie, und mir war klar, dass sie von Gabriel kommen musste. Er wollte mich einschüchtern, und ich kämpfte gegen meine Panik an.
Er warf einen abschätzigen Blick auf meine Schlinge. »Deine Artgenossinnen haben uns nichts als Schmerz gebracht.« Seine Stimme hatte einen seidig-weichen Klang, aber die Drohung war nicht zu überhören. »Mein Bruder würde für dich sterben. Bist du das wert, Heilerin?«
Ich unterdrückte meinen Wunsch, ihm einen Tritt zu verpassen. Vermutlich war Flucht die klügere Wahl. Als ich zur Tür hechtete, ließ er es zu. Wieso auch nicht? Ich rannte den Gang entlang wie ein Feigling.
Ich setzte mich neben Lucy und tat so, als sei nichts geschehen. Eine Weile später sah ich, wie Gabriel an seinen Tisch zurückkehrte. Er hatte kein Problem damit, mich wie Luft zubehandeln, und wandte seine Aufmerksamkeit einer seiner Gespielinnen zu. Ich aber konnte mich nicht mehr konzentrieren.
Asher und Gabriel waren beide davon überzeugt, dass andere Beschützer mich bald finden würden, und Gabriel würde es nichts ausmachen, mich ihrer Willkür ausgeliefert zu sehen. Immer wieder verglich ich im Geiste die beiden Brüder. Im Unterschied zur tröstenden Wärme von Ashers Energie konnte Gabriels eisige Energie grausam sein. Ich fragte mich, wieso er mir nicht schon zuvor gedroht hatte, vermutete aber einen Zusammenhang mit Asher. Bestimmt würde er es an mir auslassen, wenn seinem Bruder meinetwegen etwas passierte.
Am nächsten Tag kam ich vor Asher zum Englischunterricht und wartete vor dem Klassenzimmer darauf, dass Lucy mir meine Schultasche brachte. Ben hatte mich mittags nach einem Besuch beim Arzt abgesetzt, der erlaubt hatte, dass ich die Schlinge abnahm. Während des Wartens spukte in meinen Gedanken immer wieder Gabriels Frage herum. Ich konnte Asher vertrauen, aber war ich das Opfer wert, das er in meiner Nähe jedes Mal brachte? Wenn die Beschützer mich aufspürten, wäre ich es wert, wenn er für mich sterben würde? Ich schloss die Augen und schlang einen Arm um meinen brennenden Magen.
»Ja.«
Irgendwie überraschte es mich nicht, seine Stimme zu hören. Ich schlug die Augen auf, und Ashers leidenschaftlicher Blick hielt mich gefangen. Wenn er mich so ansah, konnte ich nicht denken.
»Ja, was?«
»Ja, du bist es wert, dass man für dich stirbt.«
Seine Gewissheit ließ keinen Raum für Zweifel, aber er würde herausfinden, dass ich nichts getan hatte, was es rechtfertigen würde, dieses Opfer für mich bringen. Doch ich würde alles dransetzen, dass meiner Familie und diesem Jungen kein Leid geschah.
Asher lächelte, wie über einen familiären Witz und streckte seine Hand aus. Er hatte seinen Schutzwall oben, und ich legte meine Hand in seine, um die tröstliche Wärme seiner Berührung auszukosten. Erst jetzt fielen mir die ganzen Schüler um uns herum auf, die zum Unterricht gingen. Manche warfen uns neugierige Blicke zu, aber das war mir egal. Ich fragte mich, wo Lucy steckte.
»Sie war hier. Ich habe ihr gesagt, ich würde dir deine Tasche geben.« Er hob eine Schulter, und ich bemerkte, dass er meine und seine Tasche trug.
Er muss mir angesehen haben, dass es mir überhaupt nicht gefiel, wenn er einfach so auf meine Gedanken antwortete. »Tut mir leid, Remy. Ich kann nichts dafür, ehrlich. Ich tu’s wirklich nicht mit Absicht.«
Mir war noch immer nicht wohl dabei, aber ich nickte. »Schon kapiert, dennoch kommt’s mir wie ein Übergriff auf meine Person vor.«
»Es ist auch nicht ganz fair.«
Ich seufzte. »Das sind die Schmerzen, die du in meiner Nähe aushalten musst, aber auch nicht.«
Er blickte sich um, und uns wurde beiden klar, dass sich der Gang geleert hatte. Er trat vor, um mir die Tür zu unserem Klassenzimmer aufzuhalten, und als ich an ihm vorbeiging, flüsterte er: »Kann ich dich nachher heimfahren?
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