Toxic: Der Biss - Das Feuer - Die Hölle Thriller (German Edition)
hintere Seitenfenster heruntergekurbelt wurde. Caleb Stark sah mich voller Trauer an – er hatte zum zweiten Mal einen Vater verloren.
Am liebsten wäre ich dem Wagen nachgelaufen und hätte Lucas Starks Geheimnis eingefordert. Aber am Ende vertraute ich auf Carlton Lees Urteilsvermögen. Bei derartigen Ermittlungen stößt man selten auf jemanden, dem man vertrauen kann, jemanden mit genauen Kenntnissen, der einem in kurzer Zeit das Wesentliche mitteilen kann. Er hatte sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht. Auch wenn Carlton Lee doch nicht herausfinden sollte, was Stark Carruthers erzählt hatte, seine Chancen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, standen doch immer noch besser als meine. Also nickte ich widerstrebend, und wir gingen über die löchrige Straße zu der Wiese, wo mein Auto stand.
»Ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben, Carlton«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand. »Wir bleiben in Kontakt.«
»Sie hören in ein paar Tagen von mir«, versprach er. »Und wer weiß, was Sie morgen in Scottsboro finden.«
»Stimmt.« Ich öffnete die Autotür, doch dann fiel mir ein, dass ich einen Teil der Geschichte der Familie Stark immer noch nicht kannte.
Carlton Lee hatte sich abgewandt und sah zu, wie Lettie mit den Kindern auf einer alten Wippe spielte, die auf dem Spielplatz der Kirche stand. Übers Autodach hinweg fragte ich: »Carlton, was ist eigentlich damals mit dem Mädchen passiert – mit Lil?«
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Carlton Lee rieb sich den Nacken, als hätte er eine Verspannung. »Sie war undurchschaubar«, sagte er. »Die Carruthers haben sie adoptiert, genau wie Caleb. Und für eine Weile konnte sie das Chaos hinter sich lassen, das mit dem Mord zusammenhing. Aber es hatte seine Narben hinterlassen – das war nicht zu übersehen.«
»Und woran sah man das?«
»Wie gesagt, Lil war ein fröhliches Kind, das sich im Wald herumtrieb und auf den Berghängen hinter dem Haus herumkletterte. Als ihre Mutter noch lebte, war sie der reinste Wildfang. Aber nach dem Tod ihrer Eltern wurde sie sehr still, und als Teenager war sie dann mürrisch, verlor die Orientierung und lebte das in erotischen Abenteuern aus.«
»Was heißt das?«
Carlton Lee zuckte die Schultern. »Sie wurde das Stadtflittchen – ein seltsames Verhalten, so gut wie sie aussah. Sie hat rebelliert, getrunken, Joints geraucht. In ihr gärte ein unstillbarer Zorn. Die Carruthers konnten da nicht mehr viel ausrichten. Lil sagte, sie würde ihre Adoptiveltern hassen, und im selben Augenblick verkündete sie, sie wolle nicht mehr leben. Dann wieder wollte sie mit Caleb das Weite suchen.«
»Leider ist Hattiesburg nicht gerade ein fortschrittlicher Ort«, fuhr er fort. »Sie hätte wohl eine Therapie gebraucht, aber die hat sie nicht bekommen. Alle in der Stadt wussten, was passiert war, und sahen Lil an, als wäre sie nicht ganz richtig. Die Leute taten so, als stünde sie mit dem Teufel im Bunde. Ich rechnete damit, dass sie früher oder später schwanger werden und mit einem gewalttätigen Ehemann in einem Wohnwagenquartier außerhalb der Stadt landen würde. Ich habe mich geirrt. Auch wenn sich Lil wie eine Schlampe benahm, sie hatte doch Köpfchen. Eines Tages gegen Ende ihres letzten High School-Jahres hörte sie auf, über Selbstmord zu reden. Jetzt hatte sie etwas anderes im Sinn. Sie meinte, sie wüsste nun, wie man sterben und neu geboren werden könne, und versicherte den Leuten, sie könne sich in einen anderen Menschen verwandeln.«
»Wem hat sie das erzählt?«
»Meiner Schwester zum Beispiel«, erwiderte Carlton Lee und sah zu seiner Frau hinüber, die ihre jüngste Tochter auf der Schaukel anschubste. »Lettie auch. Wir gingen damals schon miteinander, das hat einen Mordsaufruhr in der Stadt verursacht.«
Er kniff die Augen zusammen, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Ungefähr zwei Wochen später machte die Abschlussklasse eine Campingparty am Washoo River, bei den so genannten Rocky Narrows. Ich war damals zwanzig und arbeitete seit zwei Wochen für Polizeichef Carruthers als Hilfspolizist in der Nachtschicht. Ich sah mich gegen zwei Uhr morgens ein bisschen auf der Wiese um und leuchtete mit der Taschenlampe mal hier, mal da hin«, fuhr Carlton Lee fort. »Die meisten Jugendlichen hatten sich schon schlafen gelegt. Ein paar saßen noch am Lagerfeuer und warfen rasch die Flaschen weg, als sie mich sahen. Ich leuchtete noch ein bisschen in den Wald hinein, da sehe ich diesen Drecksack namens
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