Toxic: Der Biss - Das Feuer - Die Hölle Thriller (German Edition)
anrufen, um einen Mann zu finden. Oder eine Frau. Er sagte, er denke andauernd an Gruppensex. Und ich sollte mitmachen.«
»Und haben Sie?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Von mir aus können Sie mich prüde nennen. Ist mir gleich. Ich konnte es einfach nicht.«
»Und was hat Ihr Mann getan, als Sie sich weigerten?«, fragte Missy.
»Er zog los, um seine Wünsche woanders zu befriedigen«, erwiderte sie unglücklich.
»Woher wissen Sie das?«
Sie zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen. »Ich hatte irgendwo etwas über den Cache im Computer gelesen, in dem die besuchten Internetseiten gespeichert werden. Da habe ich mich eben informiert, wie ich herausbekomme, auf welchen Seiten er gewesen war. Und es waren Swinger-Seiten dabei. Ich fand auch E-Mails, mehrere, mit Verabredungen.«
»Wie viele solcher Verabredungen hat er gehabt, was glauben Sie?«
Sophia nahm eine tragische Haltung ein. »So viele, dass es ihn das Leben gekostet hat, Sergeant.«
10
Bevor die Welt von Wortklaubern beherrscht wurde, war ein medizinischer Gutachter noch ein Leichenbeschauer, und die Stätte seines Wirkens hieß schlicht Leichenschauhaus. Aber ganz gleich, wie man diese Leute und ihren Arbeitsplatz nennt, es umgibt sie immer ein Geruch, den kein noch so kräftiges Reinigungsmittel jemals tilgt. Er gehört zu jenen Begleiterscheinungen meines Berufs, an die ich mich sicher nie gewöhnen werde. Für mich ist dieser Geruch untrennbar mit der Erinnerung an rote Lakritze und Lavendel verbunden.
Zwei Tage nach der Ermordung meines Vaters, am Tag nach meiner Jungfernfahrt in einer 67er Corvette, zog meine Mutter ein schwarzes Kleid und die Zuchtperlenkette an, die ihr mein Vater zu Weihnachten geschenkt hatte. Mich und meine jüngere Schwester Christina steckte sie in den Sonntagsstaat. Begleitet von unserem eigens aus San Diego eingeflogenen Onkel Anthony gingen wir zum Leichenschauhaus von Suffolk County. Onkel Anthony redete auf meine Mutter ein, sie solle die Leiche nicht selbst identifizieren. Doch meine Mutter Angelina Moynihan war eine eigensinnige, stolze Sizilianerin der zweiten Generation, die an der Boston Latin School, der angesehensten Schule von Boston, mit sanfter Gewalt Englisch unterrichtete. Sie wollte nicht warten, bis das Bestattungsunternehmen seine Verschönerungsarbeit getan hatte. Niemand konnte sie daran hindern, sich anzuschauen, was meinem Vater, ihrem geliebten James Michael Moynihan, angetan worden war. Heute denke ich, wir Kinder wurden mitgeschleppt, damit sie nicht einfach zusammenklappte.
Die Southern Mortuary, das Leichenschauhaus von Boston, befand sich damals, im Frühjahr 1976, in einem großen Ziegelsteingebäude unweit des Stadtteils Mattapan. Eine Woche zuvor hatte ich meinen zehnten Geburtstag gefeiert, und ich weiß noch gut, wie ich die fleischige, schwielige Hand meines Onkels Anthony hielt, als wir das City Hospital passierten, um die Ecke bogen und zwei Blocks weitergingen, bis wir über einige Betonstufen zu einer Tür kamen, über der ein halbmondförmiges Fenster prangte. Ein rotgesichtiger Captain der Bostoner Polizei namens Slattery empfing uns in der düsteren Eingangshalle.
»Sie sind nicht dazu verpflichtet, Mrs.Moynihan«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Wir haben ihn bereits anhand des Zahnschemas identifiziert.«
»Das sage ich ihr schon den ganzen Morgen«, bemerkte Onkel Anthony.
»Bringen Sie mich zu ihm«, sagte meine Mutter unbeirrt. Und dann verschwanden sie und der Captain durch die grüne Flügeltür aus Metall, die noch eine Weile nachschwang und uns den Geruch zuwedelte, der mir später allzu vertraut werden sollte.
Christina und ich setzten uns neben Onkel Anthony auf eine Bank in der Eingangshalle. Anthony war der Bruder meiner Mutter, Steinmetz wie sein Vater, gläubiger Katholik und Baseball-Fan wie meiner. Er gab uns rote Lakritzstangen, während wir warteten. Ich trug seit kurzem eine Zahnspange und nagte vorsichtig mit den Backenzähnen an der Lakritze, damit sie sich nicht in den Krampen und Drähten verfing. So kaute ich vor mich hin und starrte abwechselnd auf die grüne Tür und auf die Uhr an der Wand, während ich versuchte, mir das Unvorstellbare vorzustellen – dass mein Vater tot war und irgendwo dort drinnen lag. Am Tag zuvor hatte ich mit angehört, wie meine Mutter spätabends mit Onkel Anthony redete. Sie sagte, mein Vater sei aus unmittelbarer Nähe von zwei Kugeln getroffen und anschließend mit Benzin übergossen
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