Toxin
auf dem Zettel. Seine Vermutung bestätigte sich: Es war der Wagen des Arztes.
Er traf die gleichen Vorbereitungen wie vor Kims Haus und stieg aus. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt. Er spannte einen kleinen Schirm auf und nahm seine Aktentasche vom Beifahrersitz. Die Tasche in der einen Hand und den Schirm in der anderen überquerte er die Straße und warf einen Blick in Kims Auto. Es überraschte ihn, daß der Wagen vor Tracys Haus stand. Er war davon ausgegangen, daß Kim mit dem Mercedes in seine Praxis gefahren war. Doch er hatte sich offensichtlich geirrt; Kim war also nicht in der Praxis. Leutmann wußte inzwischen wesentlich mehr über den Mann, den er töten sollte. Er wußte, daß Kim ein hochangesehener Herzchirurg war, daß er geschieden war und jeden Monat eine beträchtliche Unterhaltssumme für seine Frau und seine Tochter überwies. Was er jedoch nicht herausgefunden hatte, war, warum O’Brian und dessen Chef aus der Rindfleischindustrie den Mann umbringen lassen wollten.
Leutmann hatte Shanahan diese Frage zwar explizit gestellt, aber er hatte nur eine ausweichende Antwort erhalten. Er wollte über die Machenschaften seiner Kunden mit seinem potentiellen Opfer zwar nie genaue Einzelheiten wissen, doch über allgemeine Dinge wollte er schon informiert werden. Das half ihm, das Risiko während des Anschlags, vor allem aber auch danach zu reduzieren. Doch sein Versuch, Shanahan auszuquetschen, hatte nichts gebracht. Es gehe um etwas Geschäftliches, war alles gewesen, was er herausbekommen hatte. Seltsam war nur, daß er bei der Durchsicht von Kims Unterlagen keine Verbindung zwischen dem Arzt und der Rindfleischindustrie entdeckt hatte - und Kims Schreibtisch war in jeder Hinsicht eine Fundgrube gewesen.
Wenn er beauftragt wurde, jemanden zu beseitigen, ging es meistens um Geld. Auf der Hitliste der Mordmotive standen ganz oben Konkurrenzkämpfe, Streit um Wettschulden, Scheidungskriege und Querelen wegen unbezahlter Rechnungen. Die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte, gehörten zum Abschaum der Menschheit, und das galt sowohl für seine Auftraggeber als auch für die Opfer. Das gefiel Leutmann und erleichterte ihm seinen Job. Doch dieser Fall schien anders gelagert. Er hatte seine Neugier geweckt, ohne jedoch seine sonstigen ausgeprägten Empfindungen auszuschalten. Am wenigsten mochte er es, wenn man ihn unterschätzte oder ausnutzte. Er war nicht auf dem üblichen Weg, also über eine Verbindung zur Mafia, ins Killergeschäft gekommen. Er hatte als Söldner in Afrika gedient, allerdings zu einer Zeit, in der noch klar zwischen gut und böse unterschieden wurde und in der die nationalen Armeen noch disziplinlosen, unausgebildeten Haufen geglichen hatten.
Er ging die Verandatreppe hoch und klingelte an der Haustür. Da Kims Wagen in der Einfahrt stand, rechnete er damit, daß ihm jemand öffnete. Doch nichts geschah. Er klingelte noch einmal. Während er wartete, drehte er sich um und inspizierte die Nachbarschaft. Sie unterschied sich erheblich von der Umgebung, in der Kim wohnte. Von seinem Standort aus hatte er eine gute Sicht auf fünf Häuser, vier weitere waren ebenfalls zu erkennen. Es waren kaum Menschen unterwegs. Außer einer Frau, die einen Kinderwagen schob und sich von ihm entfernte, war niemand zu sehen.
Obwohl er Kims Unterlagen gründlich durchforstet hatte, hatte er keinen Hinweis darauf gefunden, daß der Mann ein Glücksspieler war; deshalb ging er davon aus, daß Shanahan ihm den Auftrag aus einem anderen Grund erteilt hatte. Die Scheidung des Doktors kam als Grund ebenfalls nicht in Betracht; die Ex-Frau konnte sich wohl kaum über die großzügige Regelung beklagen. Außerdem schienen die beiden ziemlich gut miteinander auszukommen. Sonst hätte die Frau mit Sicherheit nicht die Kaution für ihren Ex-Mann gestellt, wie Shanahan ihm berichtet hatte. Schulden konnten eigentlich auch nicht der Grund sein, warum der Mann beseitigt werden sollte. Jedenfalls hatte Leutmann in den Papieren keinen Hinweis auf Geldprobleme entdeckt. Und selbst wenn der Mann Geld benötigt hätte - warum hätte er es sich ausgerechnet von einem Rinderbaron leihen sollen? Blieben noch Konkurrenzstreitigkeiten. Doch die schieden als Motiv für einen Auftragsmord erst recht aus. Bis auf ein paar Aktien einer Hamburger-Kette besaß Kim keine weiteren Anteile an der rindfleischverarbeitenden Industrie. Der Fall war Leutmann ein Rätsel. Er drehte sich um und nahm die Tür ins Visier. Sie war
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