Toxin
Überrascht stellte er fest, daß die Tür nicht abgeschlossen war. Wäre sie abgeschlossen gewesen, hätte ihn das aber auch nicht weiter gestört. Mit seinem Werkzeug und seiner Erfahrung knackte er die meisten Schlösser mühelos. Ohne zu zögern, betrat er das Haus und schloß hinter sich die Tür. Dann hielt er kurz inne und lauschte. Es war mucksmäuschenstill.
Die Aktentasche noch immer in der Hand, machte er eine schnelle Runde durch das Erdgeschoß. Er bewegte sich fast lautlos. Auf der Spüle fielen ihm ein paar schmutzige Teller ins Auge. Sie sahen so aus, als stünden sie schon etwas länger dort. Im ersten Stock entdeckte er die geborstene Tür, die zum Hauptbadezimmer führte. Er registrierte auch den entzweigeschlagenen Beistelltisch. Er ging ins Bad und befühlte die Handtücher. Sie waren seit einer ganzen Weile nicht benutzt worden, soviel stand fest. Also schien zumindest diese Information von Shanahan zu stimmen.
In dem begehbaren Kleiderschrank nahm er die auf dem Boden herumliegenden Kleidungsstücke zur Kenntnis. Er fragte sich, was bei dem verpatzten Anschlag, den Shanahan erwähnt hatte, wohl tatsächlich passiert war.
Wieder unten im Erdgeschoß betrat er das Arbeitszimmer und ließ sich an Kims Schreibtisch nieder. Ohne die Handschuhe auszuziehen, begann er die Korrespondenz durchzugehen. Er wollte soviel wie möglich über den Mann in Erfahrung bringen, für dessen Beseitigung man ihn extra aus Chicago herbestellt hatte.
Tracy hatte den Wagen ein Stück zurückgesetzt, so daß sie jetzt die gesamte Frontseite von Higgins und Hancock überblicken konnte. Sie hatte überlegt, ob sie zum Eingang fahren sollte, hatte es dann aber lieber gelassen, weil sie mit Kim keinen Treffpunkt vereinbart hatte. Sie hatte Angst, daß er das Gebäude durch eine der anderen Türen verlassen und dann nach ihr suchen würde.
Doch sie hatte noch nicht lange gewartet, als sie ihn aus dem Haupteingang kommen und auf das Auto zustürmen sah. Er trug einen weißen Kittel und einen gelben Bauarbeiterhelm. Vor dem Auto warf er einen Blick über die Schulter und nahm auf dem Rücksitz Platz.
»Du bist ja kreideweiß«, stellte Tracy fest. »So habe ich dich noch nie gesehen.« Sie hatte sich so weit zu ihm umgedreht, wie es das Lenkrad zuließ. »Wahrscheinlich betonen deine blonden Haare die Blässe noch.«
»Ich habe gerade das Schlimmste gesehen, was mir je im Leben vor Augen gekommen ist.«
»Was denn?« fragte Tracy besorgt.
»Den Kopf von Marsha Baldwin!« erwiderte Kim. »Wahrscheinlich ist nicht viel mehr von ihr übriggeblieben. Ein paar Knochen vielleicht noch. So ekelerregend es klingen mag - ich fürchte, der Rest von ihr ist zu Hamburgerfleisch verarbeitet worden.«
»Oh, mein Gott!« murmelte Tracy. Sie starrte Kim an. Als sie sah, daß er Tränen in den Augen hatte, mußte sie ebenfalls weinen.
»Erst Becky und jetzt auch noch Marsha«, brachte Kim hervor. »Ich fühle mich so schuldig. Jetzt hat die erste Tragödie noch eine weitere nach sich gezogen.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, versuchte Tracy ihn zu trösten. »Aber es stimmt, was ich dir bereits klarzumachen versucht habe: Marsha hat aus freien Stücken getan, was sie für richtig hielt. Das rechtfertigt nicht ihren Tod, aber dich trifft daran keine Schuld.«
Sie streckte Kim ihren Arm entgegen. Er nahm ihre Hand und drückte sie. Für ein paar Sekunden fand eine wortlose, aber intensive Kommunikation zwischen ihnen statt. Tracy seufzte, schüttelte verzweifelt den Kopf und zog ihre Hand zurück. Dann wandte sie sich um und ließ den Motor an. Die Antenne hatte sie bereits hereingeholt.
»Eins steht jedenfalls fest«, sagte sie, während sie den ersten Gang einlegte. »Wir hauen jetzt auf der Stelle ab.«
»Nein!« widersprach Kim und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. »Ich muß zurück. Ich ziehe die Sache bis zum Ende durch. Jetzt tue ich es nicht nur für Becky, sondern ich bin es auch Marsha schuldig.«
»Bitte, Kim, überleg doch mal!« entgegnete Tracy ruhig. »Es geht um Mord, das ist jetzt bewiesen! Um so etwas hat sich die Polizei zu kümmern.«
»Um einen einzigen Mord!« ereiferte sich Kim. »Aber ein einzelner Mord ist doch fast nichts, wenn man bedenkt, daß die Fleischindustrie jedes Jahr den Tod von bis zu fünfhundert Kindern zu verantworten hat - und alles nur aus reiner Profitgier!«
»Daß die Industrie für den Tod der Kinder verantwortlich ist, dürfte vor
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