Toxin
Sorgerecht hatte schwer an ihren Nerven gezehrt, doch verglichen mit ihrer derzeitigen Stimmungslage war das nichts gewesen. Dank ihrer Erfahrung als Therapeutin vermochte sie die Symptome, unter denen sie litt, klar zu deuten: Sie war kurz davor, in eine schwere Depression zu verfallen. Da sie selber schon einigen Menschen geholfen hatte, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren war, wußte sie, wie schwer es war, gegen die Depression anzukämpfen. Sie wollte es unbedingt schaffen, doch gleichzeitig war ihr klar, daß sie ihren Kummer nicht verdrängen durfte. Als sie sich ihrem Haus näherte, sah sie am Straßenrand Carls gelben Lamborghini stehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich freute, ihn zu sehen oder eher nicht. Sie bog in die Einfahrt und stellte den Motor ab. Im selben Augenblick kam Carl die Treppe herunter und eilte ihr entgegen. Er hielt einen Blumenstrauß in den Händen. Tracy stieg aus und warf sich ihm in die Arme. Eine Weile sagten sie beide kein Wort. Er hielt sie einfach nur fest, und so verharrten sie schweigend in der spätnachmittäglichen Dunkelheit.
»Woher weißt du es?« brachte Tracy schließlich hervor, den Kopf immer noch gegen Carls Brust gepreßt. »Wenn man Mitglied des Krankenhauskomitees ist, erfährt man alles«, erwiderte Carl. »Es tut mir schrecklich leid.«
»Danke«, flüsterte Tracy. »Ich fühle mich total leer.«
»Kann ich mir vorstellen«, entgegnete Carl. »Komm, laß uns rein gehen.«
Sie gingen zur Haustür.
»Wie ich gehört habe, ist Kim komplett ausgerastet. Dadurch muß für dich ja alles noch furchtbarer gewesen ein.« Tracy nickte.
»Der Mann ist wohl völlig durchgeknallt. Für wen hält er sich eigentlich - für Gott? Das ganze Krankenhaus ist wegen ihm in Aufruhr.«
Tracy öffnete die Tür, ohne zu antworten. Sie gingen hinein.
»Kim hat es nicht leicht«, sagte sie schließlich.
»Wie bitte?« entgegnete Carl verächtlich, während er Tracy den Mantel abnahm und an der Garderobe aufhängte. »Deine Toleranz kennt wirklich keine Grenzen. Für seinen Auftritt im Onion Ring gestern abend hätte ich ihn am liebsten geohrfeigt. Wie konnte er nur so eine Szene machen und behaupten, Becky habe sich dort infiziert? Hast du den Artikel in der Zeitung gesehen? Seitdem ist der Kurs der Onion-Ring-Aktie in den Keller gegangen. Was meinst du, wieviel Geld ich durch diesen Wahnsinnigen verloren habe?«
Tracy ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Sie war total erschöpft, gleichzeitig aber auch angespannt und ängstlich. Carl folgte ihr.
»Kann ich dir irgend etwas bringen?« fragte er. »Vielleicht einen Drink oder etwas zu essen?«
Tracy schüttelte den Kopf. Carl nahm gegenüber von ihr Platz. »Ich habe schon mit ein paar Vorstandsmitgliedern von Foodsmart gesprochen. Wir denken ernsthaft darüber nach, ihn zu verklagen, wenn die Aktien weiter fallen.«
»Kim hatte seine Gründe, warum er den Mann zur Rede gestellt hat«, erklärte Tracy. »Am Abend bevor Becky krank wurde, hat sie im Onion Ring einen Hamburger gegessen, der nicht ganz durchgebraten war.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sie sich dort infiziert hat«, entgegnete Carl mit einer abwinkenden Handbewegung. »Wir verkaufen jeden Tag Hunderttausende von Hamburgern. Niemand wird davon krank. Und wenn im Fleisch tatsächlich ein paar Bakterien sein sollten - wir braten förmlich alles zu Tode.«
Tracy antwortete nicht. Carl merkte plötzlich, was er gesagt hatte.
»Tut mir leid. Das ist mir einfach so rausgerutscht.«
»Ist schon gut, Carl«, brachte Tracy müde hervor. »Weißt du, was mir wirklich auf die Nerven geht?« fuhr Carl fort. »Durch dieses ganze Geschwätz über Kolibakterien sind Hamburger total in Verruf geraten. Inzwischen denken die Leute schon automatisch an Hamburger, wenn sie das Wort Kolibakterien hören. Dabei ist hinlänglich bekannt, daß man sich auch mit Apfelsaft, Salat oder Milch infizieren kann - selbst durch ein Bad in einem verseuchten See. Findest du es etwa richtig, daß man alles auf Hamburger schiebt?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Tracy. »Tut mir leid, Carl. Ich fühle mich wie betäubt. Ich kann jetzt nicht denken und auch nicht mit dir diskutieren.«
»Ist doch verständlich, mein Schatz«, entgegnete Carl. »Ich sollte lieber nicht soviel reden. Und du solltest irgend etwas essen. Wann hast du zum letzten Mal eine richtige Mahlzeit zu dir genommen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Tracy.
»Hab’ ich’s mir doch gedacht!
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