Toxin
eingetretenen Dämmerung kein einziges Licht brannte. Vor der Silhouette der Bäume erhob sich das Haus wie ein großer schwarzer Klotz.
Als sie gerade wieder wegfahren wollte, sah sie Kims Auto, das im dunklen Schatten vor der Garage geparkt war. Sie beschloß auszusteigen und zu klingeln. Vielleicht war er ja doch da. Sie drückte auf die Klingel und fuhr zusammen. Das Klingelgeräusch war ungewöhnlich laut und klar zu hören. Im nächsten Augenblick registrierte sie, daß die Tür nur angelehnt war.
Da sich nichts rührte, klingelte sie noch einmal. Wieder kam niemand zur Tür.
Marsha war irritiert und besorgt. Wieso stand die Tür mitten im Winter offen? Sie wagte sich einen Schritt vor und schob die Tür etwas weiter auf. Dann lugte sie durch den Spalt in die Diele und rief nach Kim. Doch er antwortete nicht. Sie blieb stehen, bis sich ihre Augen soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, daß sie die Treppe erkennen und durch das Eßzimmer hindurch bis zur Küche sehen konnte. Sie rief noch einmal Kims Namen, doch er meldete sich auch diesmal nicht. Sie war ratlos. Sollte sie wegfahren? Plötzlich fiel ihr Tracys Bemerkung ein; sie fürchtete, daß ihr Ex-Mann sich etwas antun könnte. Marsha überlegte, ob sie die Polizei rufen sollte, doch in Anbetracht dessen, daß eigentlich nur die Tür offenstand, erschien ihr das dann doch ein wenig übertrieben. Sie nahm all ihren Mut zusammen und betrat die Diele. Sie wollte bis zum Treppenabsatz gehen, doch soweit kam sie nicht. Auf halbem Weg blieb sie wie angewurzelt stehen. Keine drei Meter entfernt saß Kim in einem Klubsessel in einem ansonsten leeren Raum. In der Dunkelheit sah er aus wie ein Gespenst. Sein weißer Arztkittel schien zu schimmern wie das Radiumzifferblatt einer alten Armbanduhr.
»O mein Gott!« rief Marsha. »Haben Sie mich erschreckt.« Kim antwortete nicht und rührte sich nicht. »Dr. Reggis?« sprach Marsha ihn nochmals an. Für einen Augenblick befürchtete sie, daß er tot war.
»Was wollen Sie?« fragte Kim mit müder, monotoner Stimme. »Vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen. Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe anbieten.«
»Und wie wollen Sie mir helfen?«
»Indem ich das tue, worum Sie mich vor ein paar Stunden gebeten haben«, erwiderte Marsha. »Ihre Tochter kann ich Ihnen dadurch zwar nicht zurückgeben, aber ich würde Ihnen gerne helfen herauszufinden, woher das verdorbene Fleisch stammt. Vielleicht ist die Mühe auch vergebens, denn in einem einzigen Hamburger kann heutzutage Fleisch von hundert verschiedenen Rindern sein. Aber wie dem auch sei - wenn Sie immer noch interessiert sind, würde ich Ihnen gerne helfen.«
»Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?« fragte Kim. »Weil ich gesehen habe, was E. coli bei Kindern anrichten kann. Auch mit Ihrer Bemerkung über das Landwirtschaftsministerium haben Sie zu einem gewissen Grad ins Schwarze getroffen. Ich wollte es zwar anfangs nicht zugeben, aber Sie haben recht: Es gibt zwischen dem Ministerium und der Rindfleischindustrie viel zuviel Kumpanei. Jeder von mir vorgelegte Bericht über Mängel und Verstöße ist von meinem Bezirksleiter aus dem Verkehr gezogen worden. Er hat mir sogar gesagt, ich solle einfach wegsehen, wenn es ein Problem gebe.«
»Und warum haben Sie das nicht schon früher zugegeben?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Marsha. »Vielleicht aus Loyalität gegenüber meinem Arbeitgeber. Außerdem glaube ich, das bestehende System könnte durchaus funktionieren. Dazu brauchte man allerdings mehr Leute wie mich, die Mißstände auch aufdecken wollen.«
»Und in der Zwischenzeit gibt es weiter verdorbenes Fleisch, und die Leute werden krank«, fügte Kim hinzu. »Und noch mehr Kinder müssen wie Becky daran sterben.«
»Da haben Sie wohl leider recht«, stimmte Marsha ihm zu. »Jeder in der Fleischbranche weiß, daß das eigentliche Problem die Schlachthöfe sind. Denen ist Profit wichtiger als sauberes Fleisch.«
»Wann hätten Sie Zeit?« fragte Kim.
»Wann Sie wollen«, erwiderte Marsha. »Von mir aus können wir sofort los. Wir würden kein großes Risiko eingehen, denn jetzt sind höchstens noch Reinigungskräfte bei Mercer Meats. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich etwas dabei denken, wenn ich die Kontrollbücher durchgehe.«
»Okay, das ist ein Wort«, sagte Kim. »Auf geht’s.«
Kapitel 13
Samstag abend, 24. Januar
Tracy war am Boden zerstört. Die Scheidung war ihr sehr nahegegangen; vor allem der Kampf um das
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