Toxin
Was hältst du davon, in ein ruhiges Restaurant zu gehen?«
Tracy sah ihn entgeistert an. »Meine Tochter ist gerade gestorben. Wie kannst du da ernsthaft fragen, ob ich jetzt mit dir ausgehe?«
»Ist ja schon gut«, entgegnete Carl und hob die Hände, um sie zu beschwichtigten. »War ja nur ein Vorschlag. Aber ich finde, du solltest etwas essen. Ich könnte dir auch etwas holen. Wäre dir das lieber?«
Tracy beugte sich nach vorn und legte ihr Gesicht in die Hände. Carl war ihr keine Hilfe. »Ich habe keinen Hunger. Vielleicht läßt du mich heute abend einfach allein. Ich bin nicht in der Verfassung, dir Gesellschaft zu leisten.«
»Meinst du das im Ernst?« fragte Carl. Er klang ein wenig beleidigt.
»Ja.« Tracy hob den Kopf. »Du kannst doch sicher etwas anderes unternehmen.«
»Bobby Bo Mason hat mich für heute abend zum Dinner eingeladen«, fiel Carl ein. »Ich habe dir doch davon erzählt. Erinnerst du dich?«
»Nein«, erwiderte Tracy müde. »Wer ist denn Bobby Bo Mason?«
»Einer der großen Rindfleischbarone in unserer Gegend«, erklärte Carl. »Er feiert heute abend sein neues Amt. Er ist der neue Präsident des amerikanischen Rindfleischverbandes.«
»Klingt wirklich wichtig«, bemerkte Tracy, obwohl sie eigentlich anderer Meinung war.
»Ist es auch. Der amerikanische Rindfleischverband ist die mächtigste nationale Organisation der Fleischindustrie.«
»Dann solltest du dich auf keinen Fall durch mich von dem Dinner abhalten lassen.«
»Meinst du wirklich?« fragte Carl. »Ich habe mein Handy dabei. Du kannst mich jederzeit anrufen. In zwanzig Minuten wäre ich bei dir.«
»Bitte geh zu dem Dinner«, sagte Tracy. »Ich möchte nicht, daß du meinetwegen darauf verzichtest.«
Vom beleuchteten Armaturenbrett fiel ein schwacher Lichtstrahl auf Kims Gesicht. Marsha fuhr hoch und wagte einen verstohlenen Blick zur Seite. Nachdem sie ihn etwas näher ins Visier genommen hatte, mußte sie zugeben, daß er selbst mit seinem Zweitagebart noch ein gutaussehender Mann war. Sie fuhren eine ganze Weile, ohne daß jemand etwas sagte. Doch irgendwann brachte Marsha Kim dazu, über Becky zu reden. Sie hatte das Gefühl, daß es ihm guttun würde, und sie hatte recht. Kim redete sich allmählich warm und erzählte ihr über Beckys große Erfolge im Eiskunstlauf. Tracy hatte davon nichts erwähnt.
Als Kim fertig war, hatte Marsha ihm ein wenig über sich erzählt. Sie hatte Tiermedizin studiert und sich anschließend mit einer Freundin beim Landwirtschaftsministerium beworben. Zum Einstieg hatte man ihnen lediglich Stellen im Kontrolldienst angeboten. Schließlich hatte nur Marsha die Stelle angetreten. Ihre Freundin fand es uninteressant, ein Jahr oder länger als Kontrolleurin zu arbeiten und sich statt dessen für eine private Tierarztpraxis entschieden.
»Sie haben Tiermedizin studiert?« fragte Kim. »Das hätte ich nicht gedacht.«
»Warum nicht?« fragte Marsha zurück.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Kim. »Vielleicht weil Sie mir ein bißchen zu…« Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Weil Sie mir zu elegant vorkommen, glaube ich. Wahrscheinlich ist das völliger Quatsch, aber unter einer Tiermedizinerin hätte ich mir eher jemanden vorgestellt, der…«
»Was denn?« forderte Marsha ihn auf, den Satz zu beenden. Sie fand es lustig, wie er um die passenden Worte rang. »Ich glaube, ich habe mir einen grobschlächtigeren Typ vorgestellt«, erklärte er und mußte grinsen. »Wahrscheinlich rede ich totalen Unsinn.«
Marsha lachte. Immerhin merkte Kim, wie abwegig seine Vorstellungen waren.
»Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?« fragte Kim. »Ich weiß, daß man eine Frau so etwas eigentlich nicht fragt. Aber ich hatte Sie auf Anfang Zwanzig geschätzt, und das kann wohl nicht stimmen - es sei denn, Sie waren ein Wunderkind.«
»Um Himmels willen, nein«, erwiderte Marsha. »Ich bin neunundzwanzig und werde bald dreißig.« Marsha beugte sich nach vorn und schaltete die Scheibenwischer ein. Es hatte angefangen zu regnen und war schon stockdunkel, obwohl es erst kurz nach sechs war. »Wie wollen wir vorgehen?« fragte Kim. »Wie meinen Sie das?« fragte Marsha.
»Na, wie wollen wir bei Mercer Meats reinkommen?« wollte Kim wissen.
»Einfacher, als Sie denken«, erwiderte Marsha. »Das sagte ich Ihnen doch bereits. Die Tagesschicht und die Aufseher haben längst Feierabend gemacht. Außer ein paar Reinigungskräften, die Überstunden machen müssen, und einem Mann
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