Toxin
sein.«
»Ein besseres hätte man sich nicht wünschen können«, bestätigte Tracy traurig. Dann holte sie tief Luft und richtete sich etwas auf. Sie saß mit Marsha in der Nähe des Fensters; die Schatten in Richtung Osten wurden in der spätnachmittäglichen Wintersonne immer länger.
»Jetzt haben wir uns so lange unterhalten und nicht ein einziges Mal meinen Ex-Mann erwähnt. Dabei ist es doch seine Schuld, daß Sie überhaupt hier sind.« Marsha nickte.
»Das Leben ist voller Überraschungen«, seufzte Tracy. »Da verliere ich meine geliebte Tochter, die der Mittelpunkt meines Lebens war, und auf einmal mache ich mir Sorgen um Kim. Ich hoffe nur, daß er jetzt nach Beckys Tod nicht komplett durchdreht.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Marsha. »Ich weiß es selbst nicht so richtig«, gestand Tracy. »Ich habe Angst, daß er irgendeine Dummheit macht. Er hat bereits eine Nacht im Gefängnis verbracht, weil er den Geschäftsführer des Restaurants niedergeschlagen hat, in dem Becky sich seiner Meinung nach infiziert hat. Ich hoffe nur, er macht nichts völlig Durchgeknalltes und tut sich oder anderen etwas an.«
»Er hat wirklich einen ziemlich aufgebrachten Eindruck gemacht«, stimmte Marsha ihr zu.
»Das ist noch stark untertrieben«, entgegnete Tracy. »Er war immer ein Perfektionist. Aber früher hat er seine Wut nur an sich selbst ausgelassen. Sie hat ihn sozusagen zu Höchstleistungen angespornt. Aber das hat sich im Laufe der letzten Jahre leider geändert. Unter anderem deshalb haben wir uns scheiden lassen.«
»Tut mir leid«, erklärte Marsha.
»Im Grunde ist er ein guter Mann«, fuhr Tracy fort. »Er ist zwar extrem ichbezogen, aber er ist auf jeden Fall ein sehr guter Arzt. Ohne Zweifel ist er einer der besten Herzchirurgen.«
»Das glaube ich Ihnen gerne«, entgegnete Marsha. »Wissen Sie, was mich an ihm am meisten beeindruckt? Daß er in einer so furchtbaren Situation noch an das Schicksal anderer Kinder denken kann.«
»Wären Sie denn nach dem, was Sie eben miterlebt haben, immer noch bereit, ihm zu helfen?« fragte Tracy. »Dann könnte er seine Wut über Beckys Schicksal wenigstens in eine sinnvolle Richtung lenken.«
»Ich würde ihm ja gerne helfen«, erwiderte Marsha. »Aber ich muß gestehen, er hat mir ein wenig Angst eingejagt. Schließlich kenne ich ihn nicht so gut wie Sie, da ist es schwierig, seine Aktionen richtig einzuordnen.«
»Das verstehe ich gut«, entgegnete Tracy. »Aber vielleicht wollen Sie ja doch noch einmal Kontakt zu ihm aufnehmen. Ich gebe Ihnen auf alle Fälle seine Adresse. Wie ich ihn kenne, wird er sich so lange einigeln, bis ihn seine Wut und sein Ungerechtigkeitsempfinden aus dem Haus treiben und ihn zu einem weiteren Feldzug verleiten. Ich kann nur hoffen, daß seine Energie mit Ihrer Unterstützung in die richtigen Bahnen gelenkt wird.«
Marsha stieg in ihren Wagen. Doch anstatt gleich loszufahren, ließ sie noch einmal die Ereignisse dieses seltsamen Tages Revue passieren. Alles hatte damit angefangen, daß sie sich spontan entschlossen hatte, ein paar Überstunden zu machen und Mercer Meats einen Inspektionsbesuch abzustatten. Sie fragte sich, wie sie an die Informationen kommen sollte, die Kim von ihr haben wollte. Die Herkunft des Fleisches wurde in den Kontrollbüchern festgehalten, doch es gehörte nicht zu ihren Aufgaben, die Eintragungen zu prüfen. Sie mußte lediglich sicherstellen, daß die Bücher ordnungsgemäß geführt wurden. Da ihr bei ihren Inspektionen ständig jemand über die Schulter sah, hatte sie keine Ahnung, wie sie die Eintragungen unauffällig checken sollte. Am schwierigsten aber würde es sein, das Vorhaben vor ihrem eigenen Chef zu verheimlichen. Da man bei Mercer Meats all ihre Aktionen mit Argusaugen beobachtete und engen Kontakt zu ihrem Vorgesetzten hatte, war das nicht gerade einfach zu bewerkstelligen. Die Antwort lag auf der Hand. Sie mußte die Bücher nach der normalen Arbeitszeit prüfen, wenn nur noch die Reinigungskräfte ihren Dienst taten. Heute war Samstag, ein idealer Tag für einen Versuch. Am Wochenende war es erheblich ruhiger als wochentags.
Marsha zog den Zettel mit der Adresse hervor, den Tracy ihr gegeben hatte, und warf einen Blick auf den Stadtplan, den sie immer im Auto hatte. Kim wohnte nicht weit entfernt. Sie beschloß, bei ihm vorbeizufahren und ihn zu fragen, ob er noch an ihrer Hilfe interessiert war.
Sie fand das Haus ziemlich schnell, doch sie sah sofort, daß trotz der inzwischen
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