Tränen aus Gold
warf Elise einen Seitenblick zu. »Sollte Euch jemand nach Eurem Namen fragen, dann sagt einfach, Ihr seid Du Volstads Lehrling. Aber zieht die Kapuze ins Gesicht, und senkt den Blick, falls Euch jemand ansieht. Als Junge seid Ihr nicht sehr überzeugend.«
Justin wollte unbedingt vermeiden, daß der Posten am Eingang das Mädchengesicht deutlich zu sehen bekam; deshalb gab er, als er sein Siegel vorzeigte, Elise zornig fluchend einen Fußtritt, so daß sie zur großen Belustigung des Wachpostens fast kopfüber durch den Eingang katapultiert wurde. Er nickte beifällig und machte ein paar abfällige Bemerkungen über die Qualität der neuen Lehrlingsgeneration. Die Kontrolle des Siegels blieb auf einen flüchtigen Blick beschränkt.
Elise rieb sich ihre Kehrseite und bedachte Justin mit einem finsteren Blick, als er sich den Weg in die überfüllte, von Fackeln erhellte Halle bahnte. Der Geruch von Rauch, Gebratenem, Schweiß und Bier stieg ihr in die Nase. Nachdem sie ihren Mantel neben den Justins gehängt hatte, folgte sie ihm mit hochgezogenen Schultern, den Blick meist auf den Boden gerichtet. An dichtbesetzten Schragentischen wurde geschmaust und getrunken, während andere Hanseaten sich abseits der Tische zu Gruppen zusammengefunden hatten und sich lautstark unterhielten.
Auf einem Podium saß eine Gruppe kräftiger Männer an einem langen Tisch. Obgleich Elise Karl Hillert noch nie im Leben zu Gesicht bekommen hatte, erkannte sie ihn auf den ersten Blick. Er thronte in der Mitte. Seinen Rang, seine Macht und seine Autorität trug er mit lässiger Arroganz zur Schau. Um seinen Hals hing eine massive Goldkette, an der sein Amtssiegel, das Schild der Hanse, hing. Unweit von Hillert stand ein Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern und muskulösen Armen, der sich von dem geselligen Treiben fernhielt und den Saal beobachtete. Seine Aufgabe war es offenbar, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das Schwert an seiner Seite und der Krummdolch in seinem Gürtel bestätigten Elises Vermutung.
Zimbelklänge, schallendes Gelächter und Gesänge aus rauen Männerkehlen vermischten sich zu tollhausähnlichem Getöse, aus dem Elise Männerstimmen heraushörte, die laut zählten. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, sah sie einen Jüngling, der zwischen zwei Reihen brüllender Männer, die mit kurzen, vielschwänzigen Geißeln auf ihn einschlugen, dahintaumelte und sich ans Ende der Gasse schleppte.
Befremdet sah Elise weg. Sie ahnte, daß es sich um eines der Rituale handelte, die junge Anwärter vor der Aufnahme in die Hanse als Prüfung über sich ergehen lassen mußten.
Um nicht entdeckt zu werden, versteckte sie sich hinter den breitschultrigen Körpern, die eine schier undurchdringliche Wand um sie herum bildeten, und versuchte zwischen den Umstehenden hindurchzusehen. Dabei erspähte sie Nikolaus, der mit einer Gruppe Hanseaten in ein ernstes Gespräch verwickelt schien. Gleich darauf wurde ihr der Ausblick wieder versperrt, und sie mußte sich umdrehen und in die andere Richtung sehen.
Trotz des Halbdunkels und der verqualmten Luft konnte sie den hochgewachsenen Ostländer mit seinen Gefährten auf der entgegengesetzten Seite ausmachen. Seinen Mantel hatte er abgelegt. Er trug einen Kittel, der von einem bernsteinfarbenen Gürtel in der Mitte zusammengehalten wurde. Sein Degen hing griffbereit an seiner Seite.
Wie ein Fürst stand er da, aufrecht und mit straffen Schultern. Elise starrte ihn wie gebannt an. Die herabhängenden Schnurrbartenden, die andeutungsweise schräggeschnittenen Augen und die dunkle Haut verliehen ihm ein fast mongolisches Aussehen. Aber nur fast. Sie konnte es sich nicht erklären, doch selbst im Halbdunkel der Halle wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie ihm bereits begegnet war.
Ein Ellbogen traf Elise im Rücken, so daß sie gegen den Rücken des vor ihr Stehenden prallte, der ins Schwanken geriet, sich wieder fing und wütend umdrehte, um ihr eine schallende Ohrfeige zu versetzen. Elise glaubte Sterne zu sehen und schwankte momentan wie betäubt.
»Gib acht, du Dummkopf!« hörte sie eine laute Stimme rufen.
Die Worte hallten ihr noch in den Ohren, da packte sie eine derbe Hand am Arm. Sie versuchte sich loszureißen, vergeblich; der Mann schob sie einfach durch den Raum, bis er eine freie Stelle erreichte. Vor ihr verschwamm alles, als sie in einem großen Kreis durch die Luft gewirbelt wurde. Brüllend vor Lachen schwang der Mann eine Geißel, während er Elise mit einer
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