Tränen aus Gold
Kopfbedeckung hervorstanden. Erst als er sich umdrehte und eine Kerze auf den Tisch stellte, erkannte sie im Gegenlicht Justins Profil. Ein dunkelroter Fleck, aus dem graue Haarbüschel wucherten, zog sich auf der linken Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kinn. Bartstoppeln verdunkelten Kinn und Oberlippe. Sein Mund schien ständig zu einer verächtlichen Grimasse verzerrt. Als er sich bewegte, wirkte er steif und zog das linke Bein nach.
Justin holte ein Holzkästchen aus dem Schrank, stellte es auf den Schreibtisch und klappte den Deckel auf. Er entnahm dem Kästchen die verknoteten Enden einer dünnen Schnur, an der ein Bronzesiegel hing, und steckte es ein. Dann schwang er einen Mantel um die Schultern und verließ den Raum.
Elise nahm sich einen kürzeren Umhang aus Justins Truhe und beeilte sich, ihm zu folgen. Vor der Haustür hielt sie kurz inne. Der Wind hatte sich gelegt, Justin war nirgends zu sehen. Allein seine Fußabdrücke waren im frisch gefallenen Schnee zu erkennen.
Elise hatte sich auf der Suche nach ihrem Vater so oft in verrufene Gegenden gewagt, daß sie inzwischen gelernt hatte, sich geschickt durch die Straßen einer dunklen Stadt fortzubewegen. Sie huschte dahin wie ein Gespenst, ständig die Fährte des Verfolgten vor Augen. Jäger und Gejagter. Immer weiter, und immer mit äußerster Vorsicht. Elise hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden und wohin sie gingen. Als sie aus einer dunklen Gasse hervortrat, bemerkte sie, daß die Spuren endeten. Hastig verfolgte sie ihre eigenen Spuren zurück und stieß dabei auf mehrere schmale Pfade, die von ihrem Weg abzweigten. Aber auf keinem waren Spuren zu sehen. Es war, als hätte Justin sich in Luft aufgelöst.
Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als drei Gestalten die Gasse betraten und ihr den Rückweg abschnitten. Vorsichtig tastete sie sich rückwärts, auf der verzweifelten Suche nach einem Versteck. Plötzlich legte sich eine Hand über ihren Mund und zerrte sie in völlige Finsternis.
»Keinen Laut! Wir sind in Gefahr!« zischte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr.
Als sie Justin erkannte, ließ ihr Zittern nach. Die drei Gestalten kamen näher, während Elise und Justin in atemloser Stille warteten. Der vorderste blieb mitten auf der Gasse stehen, eine imponierende, furchteinflößende, fremdartige Erscheinung. Der Mann schien kurz zu lauschen, ehe er weiterging. Sie hörte das Knirschen seiner Schritte im Schnee, als er an ihrem Versteck vorüberkam. Am Ende der Gasse blieb er abermals stehen und wartete auf seine Gefährten. Dann traten die drei hinaus auf eine breitere Straße.
Justin stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ostländer aus Nowgorod«, erklärte er Elise im Flüsterton. »Es heißt, daß jüngst eine ganze Horde gekommen sein soll. Ich selbst habe nur ab und zu einige im Kontor gesehen. Es sind wilde Menschen, die meist unter sich bleiben und vor denen sogar Hillert Respekt hat. Die hier sollen Bojaren sein, aus Nowgorod vertrieben, als Zar Iwan vor einigen Jahren die Stadt verwüstete. Seit dem Tod des Zaren im Vorjahr sind sie bestrebt, ihre Macht in Nowgorod zurückzuerobern. In den Ostseehäfen, die nur darauf lauern, mit ihnen die Handelsbeziehungen wiederaufzunehmen, werden sie äußerst wohlwollend aufgenommen.«
»Und wohin gehen sie?« flüsterte Elise.
»Zur Versammlung im Kontor… um sich dort umzusehen und zuzuhören.«
»Und Ihr… Ihr wollt auch dorthin?« fragte Elise halblaut.
»Ja, das ist meine Absicht, doch kann ich Euch hier nicht allein lassen. Die Zeit, Euch zurückzubegleiten, habe ich aber auch nicht. Was soll ich mit Euch anfangen?«
»Könnte ich nicht mitkommen… oder Euch folgen wie zuvor?«
Justin runzelte die Stirn und dachte eine Weile nach. »Mir scheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch mitzunehmen.« Er faßte nach ihrem Arm. »Also kommt.«
Zu zweit liefen sie ans Ende der Gasse, wo sie wieder geduckt innehielten, um zu beobachten, wie die drei Ostländer einem massiven Bau mit schmuckloser Vorderfront und einer breiten, zu einem großen Portal führenden Treppe zustrebten. Vor dem Eingang hielt ein hoch gewachsener Posten Wache, der vor den Ostländern großen Respekt zeigte und Haltung annahm. Er bedeutete dem Anführer und seinen Begleitern einzutreten, ohne dem Siegel, das ihm gezeigt wurde, mehr als nur flüchtige Beachtung zu schenken.
»Wenn ich mein Siegel vorweise, dann werde ich immer sehr gründlich kontrolliert«, sagte Justin verärgert und
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