Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
Für
heute haben wir genug geschmust.«
Er befreite sich aus ihrem
Klammergriff und drückte Coco der verdutzten Thailänderin in die Arme. Da er
hier sowieso nichts mehr ausrichten konnte, beschloss er zur Polizeistation zu
fahren, um sich nach dem dortigen Stand der Dinge zu erkundigen. Kurz bevor er
die Stufen herunterlief, drehte er sich nochmal um.
»Können Sie Nahla bitte
ausrichten, dass ich hier war?«
Ihr blasses Lächeln konnte er
weder als Ja noch als Nein deuten.
****
Im Untersuchungsraum der
Provinzpolizei saßen der Vater von Sarita und zwei Brüder von dem Chinamädchen.
Damrong, der Inselchief, hielt einen von ihnen hartnäckig für den Täter. Aber je
mehr Sébastien bei dem Verhör, von dem er nach wie vor nicht die Bohne verstand,
zusah, umso mehr Zweifel erwachten in ihm.
Die Ausdrucksweise und einige
Gesten der Beschuldigten waren nicht bei allen Anklagepunkten verräterisch.
Einige ihrer Aussagen entsprachen demnach der Wahrheit. Dafür hatte er schon
immer ein gutes Gespür gehabt. Aber selten war ihm eine so undurchsichtige
Geschichte untergekommen. Mit gemischten Gefühlen begab er zurück ins Resort.
Seine Laune war mittlerweile auf
dem Tiefpunkt angelangt. Weder hatte er es geschafft, sich bei Nahla für sein
Verhalten zu entschuldigen, noch waren neue Erkenntnisse in den verworrenen
Mordfällen aufgetaucht. Missmutig ließ er sich aufs Bett fallen und griff nach
dem Zigarettenpäckchen auf dem Nachttisch.
Dabei fiel sein Blick auf das
alte Buch, das Nahla ihm am ersten Tag ihrer Begegnung in die Hand gedrückt
hatte. Zögernd griff er danach und schlug geistesabwesend die erste Seite auf:
“Die Legende und Prophezeiung der Vila.“ Nachdenklich schüttelte er den Kopf und
dachte nach. Das klang eher nach einem Märchen, aber vielleicht könnte es doch
nicht schaden, mal einen Blick hineinzuwerfen. Von einer inneren Unruhe
ergriffen stand er auf.
Barfuß ging er zum Kühlschrank
und goss sich ein Glas Eistee ein. Anschließend schnappte er sich sein
Badelaken. An seinem Privatpool legte er sich in die Hängematte und schlug das
Buch erneut auf und begann zu lesen.
Die Einträge waren in einzelne
Kapitel unterteilt, die nach den Handschriften zu urteilen, von vielen
unterschiedlichen Mönchen gemacht wurden. Und doch hatten alle Einträge immer
wieder den gleichen Konsens.
Irgendwann blickte er
nachdenklich auf. Irgendetwas stimmte bei der ganzen Geschichte nicht. Aber war
es möglich, dass sich so viele Mönche aus völlig unterschiedlichen Epochen irren
konnten? Frustriert glitt sein Blick zum Himmel, an dem sich jetzt dunkle
Wolkenberge auftürmten. Malee hatte sie schon gewarnt. Heute Nacht würde der
Monsunregen einsetzen.
Gereizt sprang er aus der
Hängematte und begann unruhig auf- und abzulaufen. Irgendwie musste er seine
Gedanken auf den entscheidenden Punkt bringen. Vielleicht würde ein Sparziergang
am Strand ihm helfen, den Durchblick zu finden. Denn wenn die Wassergeister
wirklich existierten, wovon er mittlerweile halbwegs überzeugt war, dann waren
alle bisherigen Vorkommnisse absolut nicht logisch.
Dass die Vila die Babys
entführte, konnte er aufgrund der Legende und den Aufzeichnungen der Mönche
nachvollziehen. Aber warum tötete sie erst seit Kurzem die Väter? Und der 18-
jährige, fast ertrunkene Thaijunge am Strand war für ihr Beuteschema viel zu
jung. Er passte überhaupt nicht in das Täterprofil. Tief in Gedanken versunken
lief Sébastien immer weiter.
Der jetzt aufkommende, heftige
Wind spielte mit seinen halblangen, braunen Haaren und jetzt spürte er die
ersten, harten Regentropfen, die sein Gesicht benetzten. Er sah zum Himmel
hinauf, der sich mittlerweile rabenschwarz verfärbt hatte. Die Umgebung des
Strandes wurde nur leicht von den einzelnen Lichtern der nahegelegenen Stadt
beleuchtet. In seinen Überlegungen hatte er sich weit vom Resort entfernt und
stand jetzt auf der Einwohnerseite.
Ein dumpfes Donnergrollen
erklang. Kurz darauf durchzuckte ein heller Blitz den dunklen Nachthimmel.
Stirnrunzelnd versuchte Sébastien einzuschätzen, wie weit das Gewitter noch
entfernt war. Im Stillen zählte er die Sekunden und beobachtete dabei das
elektrostatische Wetterleuchten über dem Meer. In diesem Augenblick fiel sein
Blick auf sie und er zog scharf den Atem ein.
Nahla stand mit ihrem
aufgerollten Sarong bis zu den Knien im Wasser. Sie hatte die Hände umgekehrt
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