Tränen des Mondes
meine Kinder. Werde groß und stark, kleiner Baum.« Sie streifte mit den Fingern leicht über die fiedrigen Blätter und wandte sich mit Tränen in den Augen ab.
Olivia zog sich langsam aus dem Büro der
Star of the Sea
zurück, weil Maya sich in immer mehr Aufgaben einarbeitete. Olivia sah es gern, daß Maya sich so für das Unternehmen engagierte und daß ihr Vater solche Freude an ihrer Mitarbeit hatte. Als sie eines Tages die Briefe und Pakete für die Post in den Süden zusammenstellten, sprach Olivia Maya darauf an, wie sehr ihr ihre Tätigkeit im Geschäft und das Leben in Broome allgemein zu gefallen schienen.
»Ich fürchtete schon, du würdest es hier nach dem Leben im Süden mit seinen vielen Möglichkeiten und Abwechslungen ein bißchen langweilig finden.«
»Aber damals war ich auch noch eine Weiße«, antwortete Maya fast beiläufig und zog den Knoten einer Paketschnur fest.
Olivia war völlig perplex. »Was meinst du denn damit, um Gottes willen?«
Maya sah auf, verblüfft über Olivias Reaktion. »Also, das Leben im Süden ist bei weitem nicht so wunderbar, wenn du eine Aborigine bist.«
»Aber du bist doch …« Olivia unterbrach sich und suchte nach dem richtigen Wort.
»Anders?« warf Maya mit hochgezogenen Augenbrauen ein.
Olivia lief leicht nervös im Büro auf und ab. »Nein, das meine ich nicht. Es ist nur … also, ich habe mir darüber eigentlich gar keine Gedanken gemacht, seit wir hier sind. Du paßt einfach gut hierher. Alles kommt mir so … so normal vor.«
»Schon, aber nur, weil wir in Broome sind, und Broome selbst ist ja keine ›normale‹ Stadt, oder? Wenn du von Aborigines abstammst, hast du hier keine Probleme, niemand kümmert sich darum. Man sieht sie hier doch täglich auf den Straßen, hier leben Aborigines, die sich mit weiß Gott wie vielen anderen Rassen vermischt haben.« Sie streifte ein Gummiband über einen Stapel Briefe und fuhr fort: »Ich habe das fast mein ganzes Leben lang verdrängt. Aber jetzt darf ich sein, was ich bin, und das heißt, auch eine Aborigine. Hier ist das nicht weiter schwer, aber in Perth oder Fremantle könnte ich es nicht. Da unten will keiner etwas mit Aborigines zu tun haben, auch wenn sie noch so weiß aussehen.« Sie lachte, und damit verflog die Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. »Ich könnte nie dorthin zurück, jedenfalls nicht, um dort zu leben.«
Olivia nahm Mayas Hand. »Maya, es tut mir leid, daß ich nicht früher mit dir darüber gesprochen habe. Ich habe zu vieles für selbstverständlich gehalten und einfach nicht überlegt, wie du wohl mit deiner Herkunft zurechtkommst.«
»Du brauchst dir überhaupt keine Vorwürfe zu machen, Olivia. Nur Georgie tut mir wirklich leid. Wie sie auf Minnies Stamm reagiert hat – sie will einfach nichts mit unseren Leuten zu tun haben. Das macht mich sehr traurig, ich glaube, sie wehrt sich dagegen. Auf dich hört sie mehr als auf mich. Aber deswegen kann ich mich nicht ändern, Olivia. Was ich gefunden habe, ist so wertvoll, daß ich es nicht mehr aufgeben kann.«
»Ich weiß, was du meinst, meine liebe Maya, ich weiß«, sagte Olivia leise, und sie umarmten einander.
Maya schwang sich auf den Schreibtisch und deutete mit einer einladenden Geste auf den Bürosessel. »Setz dich doch, dann erzähle ich dir etwas, worüber ich noch mit niemandem außer meinem Vater gesprochen habe.« Sie verstummte, sah nachdenklich auf den Boden und seufzte leise auf. »Du erinnerst dich, daß ich dir nach deiner Abreise geschrieben habe, ich hätte meine Familie an der Küste besucht.« Olivia nickte, und Maya nahm den Faden wieder auf. »Meine Familie«, wiederholte sie gedankenverloren. »Klingt komisch, was, wenn man weiß, wer das ist – zum größten Teil Schwarze, die immer noch im Busch leben. Aber es hat viel Spaß gemacht und war aufregend, sie sind solche warmherzigen, wunderbaren Menschen. Ich habe dir vieles gar nicht geschrieben, weil ich nicht die richtigen Worte finden konnte, und außerdem schien es mir eine viel zu persönliche Angelegenheit. Ich hatte ein sehr spirituelles Erlebnis, das mich für immer verändert hat. Wenn ich es dir erzähle, wirst du besser verstehen, wie ich mich jetzt fühle.«
Maya lehnte sich zurück und stützte sich in ihrem Rücken mit den Händen auf der Schreibtischlatte ab. »Es war eine magische Erfahrung, Olivia. Wirklich magisch.« Dann erzählte sie kurz von dem Empfang am Strand, dem kleinen Mahl mit Fladenbrot und
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