Tränen des Mondes
Minnie zubereitet hatte, wenn Alf vom Fischen zurückkam. Manchmal brachte er Mangrovenkrebse mit, die, wie Minnie verlautete, »noch besser schmeckten als Dugongfleisch«.
Ein Hauch der letzten Passatwinde von Südost wehte über die Bucht und blies Olivias Locken in die Luft. In der Brise schnupperte Olivia den Geruch des Meeres, der Mangroven, des Schlicks, des Teers, mit dem man ein Boot abgedichtet hatte, und aus dem Vorgarten eines kleinen Hauses mit hölzernen Fensterläden strömte ihr der aromatische Blütenduft eines Bäumchens entgegen, das einem Orangenbaum ähnelte, aber keiner war. Und sie wurde von der Erkenntnis überwältigt, daß dies wahrhaftig ihr Zuhause war. Broome war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Jeder Morgen hier enthielt ein Versprechen … versprach Aufregung, Abenteuer, Heldentaten, das Gefühl, daß an diesem abgelegenen Fleck an der Nordwestküste des Kontinents so gut wie alles möglich war, daß es nirgendwo auf der Welt mehr einen Ort wie diesen gab. Man gehörte hier zu einer rauhen, lärmenden, aus vielen Rassen zusammengesetzten Gemeinschaft, die einerseits aus normalen Leuten bestand, die an Land ihrer täglichen Arbeit nachgingen, andererseits aber aus Draufgängern, verwegenen und seltsamen Außenseitern und jener großen, sehr gemischten Schar von Männern, die ihr Leben der See und ihren Schätzen verschrieben hatten, jenen Schätzen, die bei den Reichen und Schönen in den großen Städten der ganzen Welt so begehrt waren. Daß diese Kostbarkeiten an einem Ort wie Broome gefunden wurden, würde allerdings die Vorstellungskraft dieser Perlenliebhaber sprengen.
Die Erkenntnis, daß diese merkwürdige kleine Stadt und die riesigen freien Landflächen, die sie umgaben, so tief in ihrer Seele verwurzelt waren, versetzte Olivia in große Aufregung. Sie erkannte, wie künstlich ihr Leben in der Stadt gewesen war, wie oberflächlich die scheinbare Befriedigung, die ihr die Arbeit im Mädchenheim und die Beziehung mit Gilbert bis zu seinem Schlaganfall verschafft hatten. Hier und nirgendwo sonst gehörte sie hin, ins australische Hinterland, wo das Leben noch einfach war, das Land ungezähmt, das Meer großartig und herausfordernd. Hier hatte sie zum ersten Mal den Ballast abgeworfen, den sie aus England mitgeschleppt hatte, und ungeahnte neue Gefühle, neue Ziele, neue Fähigkeiten in sich entdeckt. In Broome war sie neu geboren worden, Broome war ihre Heimat.
Sie vertraute Tyndall diese Empfindungen an, der sie voll und ganz verstand. Er teilte ihre Liebe zu diesem Ort, mußte sich aber eingestehen, daß er mit Broome vor allem deshalb so verbunden war, weil er hier die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Dies wog für ihn schwerer als alle äußeren Umstände seines Lebens an diesem Ort. »Es ist, als gehörten wir hierher, weil wir zusammengehören«, flüsterte er ihr eines Abends ins Ohr. »Ich hatte immer das Gefühl, daß ich dich nie zurückgewinnen würde, wenn ich Broome verlassen würde. Kannst du das begreifen, oder rede ich Blödsinn?«
Sie lachte. »Blödsinn? Natürlich nicht, Liebling. Was du sagst, ist wunderbar vernünftig. Obwohl ich ziemlich sicher bin, daß uns viele Leute für verrückt halten, weil wir hierbleiben und so viel von dem verpassen, was die Welt zu bieten hat.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber der Rest der Welt ist mir völlig egal, solange du bei mir bist.« Jeder gemeinsame Moment war für sie eine Kostbarkeit, denn sie wußten beide nur zu gut, wie schnell ihnen die Freude wieder geraubt werden konnte.
Olivia hatte Yusef gebeten, ihr einen kleinen Poinciana-Baum zu suchen, und als sie den richtigen Platz im Garten gefunden hatte, grub er das Loch, und Olivia schüttete Erde über seine Wurzeln und klopfte sie fest. Sie trat zurück, schloß die Augen und sah den Baum vor sich, wie er in vielen Jahren aussehen würde, wie er vor dem türkisen Wasser der Bucht in die Höhe strebte, die herabhängenden weichen Zweige übersät mit Blüten in strahlendem Gold und Orange.
Später kehrte Olivia allein zu dem frisch gepflanzten Bäumchen zurück. Sie kniete sich hin und wickelte ein kleines Schraubglas aus, das mit pulvriger roter Erde gefüllt war. Sie schraubte den Deckel ab und streute die Erde von James' erstem Grab um den Baum herum. Dann grub sie ein kleines Loch, griff in ihre Tasche, zog Hamishs Kriegsmedaille heraus und vergrub sie darin.
»Jetzt sind meine Söhne endlich zu Hause«, flüsterte sie. »Ruht in Frieden,
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