Tränen des Mondes
Sirup, dem Aufbruch in den Busch mit den Frauen. »Du mußt dir das mal vorstellen, Olivia. Ich mit meinem großen Strohhut, fast fein genug gekleidet für einen Einkaufsbummel in Perth, wie ich mit einer Horde schwarzer Frauen losziehe, die nicht viel mehr anhatten als ihre alten Röcke. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir gingen, und der riesige Unterschied zwischen uns war mir überhaupt nicht bewußt. Wir waren eine Familie, aber ich glaube, sie empfanden das zu jenem Zeitpunkt stärker als ich. Kurz – sie entführten mich in eine andere Wirklichkeit, ohne diese Welt zu verlassen. Wie Alice im Wunderland.«
Dann erzählte Maya, wie sie mit Hilfe von Minnies Übersetzungen erfuhr, daß sie eine besondere Beziehung zu bestimmten Felsen und Bäumen auf dem Weg besaß. Sie lernte, daß bestimmte Landschaftselemente eine Bedeutung für alle Frauen hatten, daß sie heilige Stätten waren. Und dann kamen sie zu einem Felsüberhang, einer Art Höhle, deren Wände mit ockerfarbenen Zeichnungen bedeckt waren, es waren seltsame Figuren. »Das war ein ganz besonderer Ort, Olivia. Das konnte ich spüren, bis in mein Herz, meine Seele hinein. Schon bevor Minnie es mir erklärte, wußte ich, daß es ein besonderer Ort war, für sie und für mich. Ich kann dir nicht alles erzählen, was geschehen ist, weil es geheim bleiben muß.« Maya beobachtete gespannt, wie Olivia reagieren würde.
»Das verstehe ich voll und ganz, Maya. Ich weiß, warum du das Geheimnis wahren mußt. In all den Jahren hat mir Minnie viel über ihre Kultur beigebracht. Vergiß nicht, daß auch ich eine besondere Beziehung zu diesem Clan hatte.«
»Meine Güte, das muß für dich eine unglaubliche Erfahrung gewesen sein. Ich meine, du kamst frisch aus England ans ›Ende der Welt‹ sozusagen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie du schwanger und mutterseelenallein im Busch gehockt hast und meinen Vater mit einer Knarre bedroht hast.«
Beide lachten, dann fuhr Maya fort und machte einige Andeutungen über die Zeremonien, die an der heiligen Stätte der Frauen stattgefunden hatten, dabei wählte sie die Worte sehr sorgsam und sparte Details aus. »Das war alles für mich, Olivia, sie machten mich ganz zu einer der ihren, zu einem Mitglied ihrer Familie, und Stunde um Stunde kehrten die Erinnerungen an meine Kindheit bei ihnen zurück. Die Träume, die ich als Kind in Albany hatte, waren keine Träume, sondern Wirklichkeit. Ich erinnerte mich an Orte, Worte, Namen, erkannte Verwandte und sogar einige der Kinder, mit denen ich gespielt hatte. Auch sie erinnerten sich. Das war so seltsam und gleichzeitig so aufregend. Und als wir am Abend ins Lager zurückkehrten, tanzten wir im Schein des Lagerfeuers.«
Olivia konnte ihr Staunen nicht verbergen. »Du hast getanzt!«
»Ja. Ich konnte nicht anders. Irgend etwas in mir überwältigte mich, und ich mußte tanzen. Ich war eine von ihnen. Es gehörte in diesem Moment einfach dazu, daß ich tanzte.«
Olivia erinnerte sich, wie sie Aboriginefrauen in Missionsstationen und bei besonderen Anlässen wie dem Besuch von Regierungsbeamten beim Tanz zugesehen hatte, doch sie konnte sich Maya nur schwer dabei vorstellen. »Du hast … barfuß getanzt … und alles …?«
»Ja.«
Olivia holte tief Atem. »Maya, das ist ja unglaublich! War dir das denn nicht peinlich?«
»Nein. Begreifst du nicht, Olivia? Ich gehörte einfach dazu. Ich bin eine von ihnen. Es kam mir völlig richtig und natürlich vor, daß sie mir die Brüste, die Schultern und das Gesicht bemalten, daß ich aufstand und mit ihnen tanzte. Sie verstehen, daß ich in einer völlig anderen Welt als der ihren lebe, aber sie wissen genausogut wie ich auch, daß wir eine spirituelle Welt miteinander teilen. Das ist etwas ganz, ganz Wichtiges. Diese spirituelle Welt kann ich nicht verleugnen, Olivia, niemals.«
Olivia stand auf, und sie umarmten sich. »Ich weiß, was du damit sagen willst, meine liebe Maya. Ich weiß. Und ich danke dir von ganzem Herzen, daß du es mir erzählt hast. Ich bin so stolz auf dich.«
Am nächsten Tag kam das Postschiff, und mit derselben Flut kehrten viele Logger in den Hafen zurück, sie wurden alle hintereinander von einem kleinen Schlepper gezogen. Maya und Olivia gingen zum Hafen hinunter, um die Heimkehrer zu begrüßen. Tyndall sprang kühn vom Deck auf den Kai, bevor die erste Leine geworfen wurde, und umfing alle beide in einer stürmischen Umarmung. »Meine lieben Mädels! Ich kann euch gar nicht sagen, wie
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