Tränen des Mondes
plaudere mit dem einen oder anderen Besucher, der sich hierher verirrt.«
»Von wo kommen Sie, wollen Sie nicht irgendwann wieder nach Hause zurück?«
»Ich habe keine Familie mehr in München. Ich werde hier begraben. Einige Brüder sind zurückgegangen, andere haben hier ihr Grab gefunden. Sind nicht alle an Altersschwäche gestorben, es gab auch Unfälle«, meinte der Pater mit einem schmerzlichen Ausdruck. Er warf Lily einen schrägen Blick zu. »Interessiert Sie das?«
»O ja, sehr.«
»Ich habe ein Buch. Ein Tagebuch, das ein Bruder in der Anfangszeit der Mission begonnen hat. Es ist über die Jahre fortgeführt und später von einem der Brüder gedruckt worden. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen.«
Lily wartete vor der Kirche in der Morgensonne, während Bruder Wilhelm in seinem Zimmer einen Koffer unter dem Bett hervorzog und darin herumsuchte. Sein ›Zuhause‹ bestand aus einem einfachen Raum gleich neben der Gemeinschaftsküche und dem Gemeindesaal.
Lily hörte eine Frau in der Küche hantieren und zwei kleine Kinder schelten. Eins der Kinder kam nach draußen gelaufen und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Als der Junge Lily erblickte, blieb er stehen und sah sie scheu an.
»Hallo, junger Mann. Wie geht's?«
»Ganz gut.« Ein breites Grinsen ließ die weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht aufblitzen, dann floh der Junge kichernd wieder nach drinnen. Seine Mutter erschien an der Tür und lächelte die Fremde draußen freundlich an.
»Brauchen Sie was?« fragte sie. »Da drüben ist ein Laden, der müßte jetzt auf haben.«
»Nein, danke. Ich warte auf Bruder Wilhelm, er holt gerade etwas für mich.«
»Sagen Sie ihm bitte, sein Frühstück ist gleich fertig. Möchten Sie nicht auch was? Sie müssen ja schon früh losgefahren sein.«
»Danke, gern.« Lily folgte der jungen Frau in die Küche.
Über ihren dick mit Dosenhering belegten Toasts erzählte der Pater Lily von der Missionsstation und ihren Anfängen. Mit ihren über vierzig Gebäuden glich sie damals eher einem kleinen europäischen Dorf. Es gab ein Kloster für die Nonnen, getrennte Schulen, Schlafsäle und Speiseräume für Jungen und Mädchen, ein Backhaus, ein Schlachthaus, eine Wäscherei, einen Ziegenstall, Vorratsschuppen, eine Gerberei, Unterkünfte für die Missionare, die Viehtreiber, die Dienstboten und die Aboriginefamilien, die auf der Station arbeiteten. Weiter draußen, da, wo Bruder Droste einst die Straße nach Broome aus dem Dickicht schlug, gab es noch ein Lager für die ›Wilden aus dem Busch‹.
Bruder Wilhelm zeigte Lily vergilbte Fotos von barfüßigen Kindern in einfachen Kitteln, kurzen Hosen und Hemden. Sie standen brav in einer Reihe neben den Pallottinerpriestern in ihrem Habit, und ihre großen dunklen Augen in den geschrubbten Gesichtern blickten voller Argwohn in die Kamera.
»Es waren gute Kinder. Sie machten schöne Handarbeiten, arbeiteten im Garten, lernten ihre Aufgaben, priesen Gott aus vollem Herzen. Lange Zeit war es ganz so, wie der Bischof es sich erträumt hatte, aber …« Bruder Wilhelm zuckte die Achseln. »Irgendwann sind sie wieder in ihre alten Sitten und Gebräuche zurückgefallen.«
»Und heute?«
»Heute ist es anders. Ein bißchen von beiden Welten«, meinte der Pater diplomatisch. Er reichte Lily ein Buch voller Schimmelflecken. »Ich fürchte, es ist nicht in gutem Zustand. Die Seiten kleben aneinander. Aber die Schrift kann man noch gut lesen.«
Lily blätterte die laienhaft gebundenen Seiten vorsichtig um, vertiefte sich hier und da in einen Absatz. »Bruder Wilhelm, das ist faszinierend. Ich würde das Tagebuch gerne lesen, aber ich finde, es sollte in der richtigen Umgebung aufbewahrt werden und für Recherchen zugänglich sein.«
»Nun, in Europa gibt es ein oder zwei Kopien davon. Ich finde, dieses Exemplar gehört nach Broome.«
»Ins Historische Museum zum Beispiel. Ich bin auf dem Weg dorthin.«
»Nehmen Sie es mit. Geben Sie es denen. Ich habe noch eine Kopie. Vielleicht kann es in klimatisierten Räumen besser erhalten werden.«
»Meinen Sie? Ja, doch, das scheint mir eine gute Idee zu sein.« Lily trennte vorsichtig zwei aneinanderhaftende Seiten mit feuchten Rändern. »Ich muß das Buch unbedingt lesen. Das werde ich im Historischen Museum tun.«
»Tun sie das. Ist eine gute Geschichte. Wie ein Roman.« Bruder Wilhelm lächelte verschmitzt. »Es stehen eine Menge Dinge über diesen Ort drin.«
»Ich bin froh, daß Ihre Ordensbrüder so
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