Tränen des Mondes
klug waren, ihre Beobachtungen niederzuschreiben. Die Zeiten ändern sich so schnell.«
»Nicht in Kimberley. Doch, doch, ist schon gut, wenn unser Werk nicht in Vergessenheit gerät.« Ein wehmütiger Zug lag auf seinem Gesicht, und Lily fragte sich, ob die Arbeit des Paters noch auf andere Weise gewürdigt würde als bloß in der Zuneigung, die ihm seine kleine Gemeindeschar entgegenbrachte. Während Missionare wie Bruder Wilhelm von dem Wunsch beseelt waren, für die Aborigines ›Gutes‹ zu tun, wußte Lily aus heutiger Sicht, daß das nicht immer zu deren Vorteil geschah. Sie würde sich aber hüten, derartige Themen mit dem greisen Bruder anzuschneiden.
Sie tauschten noch ein paar Freundlichkeiten aus, dann verabschiedete Lily sich von dem Pater. »Herzlichen Dank, Pater Wilhelm. Es war sehr interessant, mit Ihnen zu reden. Ich verspreche Ihnen, daß ich das Buch wohlbehalten dem Historischen Museum übergeben werde, und wünsche Ihnen alles Gute.«
Sie schüttelte ihm die Hand.
»Gott mit Ihnen, junge Frau. Und sehen Sie sich ruhig um, bevor Sie gehen«. Er grinste vergnügt. »Die Geister sind hier wohlgesonnen.«
Seinen Rat beherzigend, fuhr sie gemächlich durch die Missionsstation und betrachtete die verfallenen nisse vergangener besserer Tage – verlassene Gebäude, die Reste eines Brunnens, zerbrochene Karren und Feldgerät. Der Viehhof allerdings war erneuert worden, und in einem Schuppen lagerten Werkzeug und Futter. Als sie jedoch den kleinen Supermarkt betrat, schien es ihr wie ein gewaltiger Zeitsprung in die Welt der Tiefkühlkost, der Zeitschriften, Hamburger, Videospiele und der modernen Haushaltswaren. Lily deckte sich mit einer Flasche Wasser und einigen Schokoriegeln für die Rückfahrt ein.
Als sie an der weißen Kirche vorbeifuhr, entdeckte sie nicht weit davon einen kleinen Friedhof. Er mußte früher einmal mitten im Busch gelegen haben. Sie hielt an. Ein französischer Trappistenbruder, mehrere Pallottinerpriester, zwei Nonnen, einige Kinder und viele erwachsene Aborigines hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die Schwarzen lagen unter christlichen Grabsteinen begraben, und Lily fragte sich, ob die Bekehrten nicht doch ihren traditionellen Baumsarg vorgezogen hätten. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihr ein ungewöhnlicher Grabstein auffiel. Es war ein unbehauener Felsblock aus dem Busch mit einer Einlegearbeit aus Perlmuttschalen, die in der Sonne glänzten. Beim näheren Betrachten der Schalen stockte Lily der Atem. Ein zartes Muster, das in die größte der Muscheln geritzt war, fiel ihr ins Auge.
Sie kniete nieder und fuhr mit zitternden Fingern über die Muschelschale. Sie wies genau die gleichen Linien und den Kreis mit den kleineren Kreisen auf wie der Perlenanhänger ihrer Mutter. Lily holte ihre Kamera aus dem Wagen und machte ein Foto von dem Grabstein und eine Nahaufnahme von der großen Muschelschale. Sicherlich ein Stammeszeichen, mutmaßte sie.
Wer lag hier wohl begraben?
Lily kehrte noch einmal um. Sie wollte Bruder Wilhelm nach dem merkwürdigen alten Grab fragen, das irgendwie mit ihrer eigenen Geschichte verquickt zu sein schien. Der Pater hatte sich jedoch zurückgezogen, wie ihr die junge Frau aus der Küche erklärte. Er sei im Gebet und wolle mindestens eine Stunde lang nicht gestört werden.
Enttäuscht wandte Lily sich zum Gehen, da fiel ihr das Buch der Ordensbrüder über die Geschichte der Mission wieder ein. Irgend etwas sagte ihr, daß sie darin ihre Antworten finden würde. Der Gedanke beflügelte und beunruhigte sie zugleich. Mit einem nervösen Kribbeln im Bauch machte sie sich auf den Heimweg.
Es war schon später Nachmittag, als Lily staubig, erschöpft, verschwitzt und mit sechsunddreißigstündiger Verspätung an der Rezeption des Hotels erschien und fröhlich verkündete: »Da bin ich wieder!«
Ein fremdes Mädchen sah sie mit großen erstaunten Augen an. »Wieso, waren Sie weg?«
»Wo ist das Mädchen, das sonst hier arbeitet? Das mit den kurzen dunklen Locken?«
»Ach, Bridget? Sie hat ein paar Tage freigenommen. Kann ich Ihnen helfen?«
»Danke, nicht nötig«, murmelte Lily und ging auf ihr Zimmer.
Nach einer ausgiebigen Dusche streckte sie sich auf ihrem Bett aus und dachte über die alte Missionsstation nach. Sie bewunderte zwar die aufopferungsvolle Arbeit der Missionare, fand aber, daß sie ihr eigentliches Ziel verfehlt hatten. Was hatten sie denn wirklich erreicht? Eine Handvoll Bekehrter und
Weitere Kostenlose Bücher