Tränen des Mondes
zu und waren froh, daß sie selbst an Bord bleiben konnten. Es verwunderte den Kapitän jedesmal aufs neue, mit welcher Entschlossenheit und wieviel Enthusiasmus diese Pioniere in die Einsamkeit und ins Ungewisse aufbrachen.
Bei fallendem Barometer segelte der Schoner weiter Richtung Norden, den steigenden Winden entgegen. Das Pärchen am Strand wirkte verloren und verlassen. Olivia griff nach Conrads Hand.
Er gab sich einen Ruck und ließ den Blick über das Buschland wandern. »Laß uns einen Lagerplatz suchen.«
Als die Nacht hereinbrach, hatten sie ein notdürftiges Lager errichtet. Junge Baumstämme dienten als Eckpfeiler, aus Buschwerk und Leinwand bauten sie Dach und Wände. Ihre Kisten und Koffer stapelten sie zu Barrikaden auf. Dahinter versuchten sie, sich so gut es ging zum Schlafen einzurichten. Die Brandung, merkwürdige Geräusche aus dem Busch und Insekten störten sie auf. Olivia ängstigte sich zwar, aber es war ihr lieber, auf festem Boden zu sein, als die schwankende Dunkelheit unter Deck zu erleiden.
Sie kuschelten sich aneinander, und Conrad versuchte es mit einer aufheiternden Bemerkung: »Meine liebe Frau, ich versprach dir ein besseres Leben, und hier liegen wir nun, nicht anders als die Eingeborenen.«
Olivia konnte seine Munterkeit nicht teilen. »Hoffentlich bleibst du nicht so lange weg. Ich habe Angst … die Eingeborenen, die Wildnis, und die Geburt, die so nah bevorsteht …« Ihre Stimme zitterte.
»Wenn ich nur könnte, würde ich den ganzen Weg im Laufschritt zurücklegen. Aber du mußt tapfer sein, meine Liebe. Du hast doch den Revolver – alles wird gut gehen. Wir wußten, daß dieses Unternehmen viel Mut und Tapferkeit erfordern würde.«
Olivia sagte nichts dazu. Ja, sie hatte gewußt, daß sie Mut brauchen würde, aber sie hatte nicht erwartet, schon so früh und so hart auf die Probe gestellt zu werden.
Am nächsten Morgen machte sich Conrad auf nach Cossack. Er hatte seine Stiefel fest geschnürt, Wassersack und Gewehr geschultert, ein Panamahut schützte seine helle englische Haut vor der Sonne. Mit seinem rötlichen Haar und den hellgrauen Augen entsprach er ganz und gar nicht dem Bild eines kühnen Abenteuers.
Er erklärte Olivia noch einmal genau, wie sie die Waffe gebrauchen müsse, legte ihr nahe, das kleine Feuer nicht ausgehen zu lassen, und empfahl ihr, die sengende Sonne zu meiden. Sie blickte ihm nach, als er, dem Zeiger des Kompasses folgend, entschlossenen Schrittes davonmarschierte. Und als seine schmale Gestalt im Busch verschwand, brach Olivia zusammen und weinte. Sie weinte aus Einsamkeit und Angst. Sie hatte Angst um ihn, um sich, um ihr Kind und vor dem ungewissen Leben, das vor ihnen lag.
Beide waren sie im Süden Londons aufgewachsen. Sie hatten sich kennengelernt, als Conrad im Warenhaus ihres Vaters eine Stelle als Buchhalter antrat. Die hübsche und kluge junge Frau gefiel ihm. Sie zeigte genauso viel Geschick und Begeisterung beim Erlernen der Buchhaltung wie hinter dem Verkaufstresen. Seine Werbung fand Erwiderung, und Olivias Vater war erleichtert, daß seine einzige Tochter einen so trefflichen Ehemann gewählt hatte. Er erhöhte Conrads Gehalt und gab ihm mehr Verantwortung im Geschäft.
Ein Jahr später starb Olivias Vater. Nach langen Überlegungen mit Conrad beschloß die junge Frau und Alleinerbin, das Warenhaus zu verkaufen und mit dem Kapital einen Neuanfang in Australien zu finanzieren. Sie verstanden zwar nichts von Landwirtschaft, vertrauten jedoch darauf, daß sie als Pächter dort erfahrene Landarbeiter finden würden.
Conrad war ein guter, liebenswürdiger Mann, aber angesichts dieser neuen und bedrohlichen Herausforderung fragte Olivia sich, wie gut sie ihn eigentlich kannte und wie er in diesem fremden Land zurechtkommen würde.
Olivia schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihre gegenwärtige Lage. Zunächst rührte sie sich nicht von ihrem Platz. Dann aber lockten sie das glitzernde Wasser und der Ruf der Seevögel, die mit den Luftströmungen segelten. Zögernd wanderte Olivia ans Wasser und blickte hinaus auf die wogende Linie des Horizonts, an dem sich eine dunkle Wolkenfront zusammenbraute. Zu ihren Füßen sah sie Muscheln, Kiesel und Splitter von Korallen wie Juwelen im Sand eingebettet. Unwillkürlich setzte sie sich nieder, zog die Stiefel und die dicken Strümpfe aus und marschierte den Strand entlang, einer fernen Landspitze entgegen.
Als sie zurückkehrte, waren ihre Füße wund, so
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